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Musik Komponistin Sofia Gubaidulina mit goldenem Löwen ausgezeichnet

Die russische Komponistin Sofia Gubaidulina erhält an der Musik-Biennale Venedig den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk. Bereits mit fünf Jahren ist sie am Klavier gesessen und hat stundenlang improvisiert. Ihre Musik steckt voller Überraschungen und rhythmischem Witz.

Plötzlich ist sie da, inmitten der Menschenmenge, die noch vor verschlossenen Türen steht und auf sie wartet: Sofia Gubaidulina. Wie eine Königin wird sie gefeiert. Die russische Komponistin, 81 Jahre alt, wache dunkle Knopfaugen unter charakteristischer Prinz Eisenherz-Frisur.

Die grosse Sala delle Colonne im Palazzo Ca'Giustinian ist bis zum letzten Platz gefüllt. Darunter rund 200 Kinder, die im Rahmen eines Schulprojekts im nahen Silea über Sofia Gubaidulina gearbeitet haben und die ihren Worten jetzt so hingerissen lauschen, als sässe Justin Bieber auf dem Podium.

«Interessiert Euch das wirklich?», frage ich ein paar Teenager neben mir. «Ma certo! E una grande personalità!» (Aber sicher, sie ist eine grosse Persönlichkeit!) Und wie um mein tantenhaftes Nachfragen Lügen zu strafen, schiessen am Ende, als die Moderatoren eine Fragerunde eröffnen, 200 Kinderarme in die Höhe.

Hatten Sie es schwer als komponierende Frau?

Sofia Gubaidulina: Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Obwohl ich durchaus von den Problemen anderer Komponistinnen weiss. Viel schwieriger war das Leben in der Sowjetunion, in einer Gesellschaft, die nicht frei war, die einem alles diktierte. Freiheit ist überhaupt das Allerwichtigste und viele russische Komponisten haben diese Freiheit nur durch den Rückzug in sich selbst gefunden, bevor sich das Land in den 1980-er Jahren langsam öffnete.

Komponieren Sie Ihre Musik für ganz bestimmte Personen?

Oh ja, sehr oft: zum Beispiel für die Geiger Gidon Kremer oder Anne-Sophie Mutter. Ich bin zutiefst dankbar für die Hingabe und Ernsthaftigkeit, mit der Musiker meine Musik spielen.

Wann haben Sie angefangen, sich für Musik zu interessieren?

Sehr früh. Im Alter von fünf Jahren bin ich mit meiner jüngeren Schwester am Klavier gesessen und wir haben stundenlang improvisiert. Eine hat unten die Pedale gedrückt, die andere darüber Melodien gespielt, so hat es angefangen.

Was denken Sie, wenn Sie komponieren?

Eigentlich denke ich an nichts, mein Kopf ist vollkommen leer. Oft habe ich das Gefühl, als würde ich eine Leiter nach oben klettern. Es ist kein Wollen im Moment des Musikschreibens. Ich lausche und es kommt.

Sind Sie religiös?

Nun, ich glaube, dass alle Musik religiös ist. Selbst die Streichquartette Joseph Haydns, die keinen religiösen Hintergrund haben, versetzen einen beim Hören in einen quasi-religiösen Zustand.

Goldener Löwe für ihr Lebenswerk

Audio
Sofia Gubaidulina, Luzerns «composer in residence»
aus Musik unserer Zeit vom 26.09.2012.
abspielen. Laufzeit 1 Minute.

Anderntags wird Sofia Gubaidulina im Rahmen der Musikbiennale in Venedig der goldene Löwe für ihr Lebenswerk überreicht. Im Publikum im Teatro alle Tese sitzen viele der Kinder vom Vortag und klatschen, als gäbe es kein Morgen, bejubeln die anschliessend gespielte italienische Erstaufführung des Schlagzeugkonzerts «Glorious Percussion». Der immense Schlagzeugapparat, vor dem Orchestra del Teatro alla Fenice platziert und von den Percussionistes de Strasbourg bespielt, zeugt von Gubaidulinas Sammelleidenschaft: Ihr Haus in Appen steht voller Instrumente aus aller Welt, Schlagzeuginstrumente vor allem, und sie mischt die Klangfarben, als sässe sie wie ein Parfümeur vor seiner Duftorgel.

Musik voller Überraschungen

Gubaidulina lässt sich an diesem Abend auch hören als eine, die nicht die grosse sinfonische Form scheut. Ihre Musik steckt voller Überraschungen, einem rhythmischen Witz, der an Schostakowitsch erinnert. Hineinkriechen möchte man in ihre Klangwelten, man rutscht unweigerlich an die Stuhlkante.

Glücklich wirkt sie, die so Grosses in der Musik geschaffen hat, als sie anschliessend nochmal auf die Bühne kommt, und gleichzeitig bescheiden. Und als sich Sofia Gubaidulina umdreht, um selber den Musikern zu applaudieren, fällt der Blick auf ihren Hinterkopf. Die Haarwirbel formen dort zwei akkurat gezogene Scheitel, die aussehen wie ein Kreuz. Aber vielleicht ist dies auch nur der erhitzten Phantasie der Zuhörerin zuzuschreiben.

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