Im French Quarter, wo sich die meisten Touristen tummeln, herrschte bald wieder «business as usual», nachdem das Wasser gesunken war. Nicht aber da, wo der wahre Geist der Stadt daheim war. «Im Lower Ninth Ward, wo die Verwüstung besonders krass war, haben jene Leute ihre Bleibe verloren, die für die wahre New Orleans-Kultur standen: für das Essen, die Mardi Gras-Indianer, den Zulu-Tribe, die Musik. Und das ist nun für immer verloren», sagte Cyril Neville, Mitglied des legendären Musikclans und Teil der «Neville Brothers», im Februar 2006 vor der SRF-Kamera.
Cyril hatte New Orleans nach der Katastrophe verlassen. Zurück wollte er nie mehr. Zu sehr schmerzte ihn der vermeintlich totale Verlust des einzigartigen Biotops, in dem er gross geworden war. Zum Glück behielt er nicht ganz Recht.
Kultur von New Orleans ist unverwüstlich
Zehn Jahre nach Katrina hat sich die Essenz dieser Kultur von New Orleans als unverwüstlich erwiesen. Die Historie verpflichtet: Auf dem Congo Square war der Jazz entstanden. Im Sound von Louis Armstrong, der Marsalis-Familie, in der Musik von Kermit Ruffins und James Andrews lebte er in direkter Linie weiter. Der rohe Rock'n'Roll von Little Richard und die sexy Hits aus der Feder von Allen Toussaint («Lady Marmalade») entstanden in lokalen Studios. Ohne New Orleans-Hits und den Funk der «Meters» ist die Soulgeschichte undenkbar.
Den Nimbus und den selbstvergessenen Groove des «Big Easy» mag New Orleans mit dem Jahrhundertsturm eingebüsst haben. Doch die spielerische Widerborstigkeit seiner Einwohner und ihr Willen, diese besondere Lebensart nicht aufzugeben, waren stärker als die Zerstörung.
Auch stärker als die vielbeklagte Gentrifizierung in grossen Teilen der Stadt. An kaum einem anderen Ort ist die Verbindung von Rhythmus, Blues und Food so untrennbar wie am Mississippi-Knie. Die örtlichen Spezialitäten sind ein Spiegel der bodenständigen und doch exotischen Zutaten in der Musik. Nur wer in Eintöpfe wie Jambalaya, Gumbo oder einfach Rice and Beans taucht, hat den vollen Genuss erlebt.
Musik bleibt Lebensnerv der Stadt
Typisch für den Schmelztiegel der Musikszene: Ausgerechnet ein britischer Einwanderer hat sich als legitimer Erbe der grossen Klaviertradition von New Orleans erwiesen. Jon Clearys Musik atmet den Geist von Professor Longhair und Dr. John. Als Zuwanderer erlebte Cleary, dass weder Touristenströme (wie jährlich beim Jazz and Heritage Festival), noch andere Zwänge dem Lebensnerv der Stadt den Garaus machen können. Zu unangepasst sind die Menschen hier.
Sinn für Wurzeln und Familientraditionen gehören zu New Orleans wie der «Second Line Beat», der federnde Rhythmus, der die Hüften ins Kreisen bringt. Ein äusserst familiärer Musikclub in Treme ist zentraler Schauplatz des Dokumentarfilms «Only New Orleans». Im «Ooh Poo Pah Doo» wirtet Judy Hill. Moment: Hill …? Genau: Es war Jessie Hill, der den gleichnamigen Hit sang. Er steuerte 1960 damit einen Klassiker zu New Orleans' Musikgeschichte bei. Wirtin Judy ist seine Tochter.
New Orleans liebt seine Kinder
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Typisch New Orleans: In diesem Club ist nicht nur die Tradition zuhause, hier ist Platz für Exzesse von Sounds und Spirits, hier spürt man verbindliches Clan-Denken. Neben den legendären Familien der Nevilles, der Marsalis, erweisen sich hier auch die Hill-Sprösslinge als Hüter der Flamme. Der berühmte Trombone Shorty, ein Dauergast im Club, ist seinerseits ein Enkel von Jessie Hill. Also Wirtin Judys Neffe.
Genau wie sein Bruder, der Trompeter James Andrews. Und ein weiterer, hoffnungsvoller Enkel, Travis «Trumpet Black» Hill, bringt das Lokal im Stadtteil Treme mit seinen Auftritten regelmässig in Dauervibration. Und dann, mitten in den Dreharbeiten zum Dokfilm «Only New Orleans», trifft die Familie ein weiterer Schicksalsschlag. Trumpet Black stirbt, völlig überraschend. Wie er von seinem Clan und seinen Fans verabschiedet wird, ist ein bewegendes und typisches Stück New Orleans-Kultur. Das klar zeigt: Es ist die Musik, die in dieser Stadt zu den stärksten Alltagsrezepten gehört. Und zu den wirksamen Heilmitteln