- 1972 nehmen Gitarrist Manuel Göttsching und seine Bandkollegen von Ash Ra Tempel mit LSD-Guru Timothy Leary eine Platte auf.
- Leary lebte kurz auf einer Alp in Rüschegg, mit den «49 Hippies aus bürgerlichem Hause, die es damals in der Schweiz gab», nachdem er aus einem amerikanischen Gefängnis geflohen war.
- Manuel Göttsching, der Gitarrist von Ash Ra Tempel, experimentierte früh mit Synthesizern. Die repetitiven Klangmuster seines Albums «E2-E4» klingen auch 2016 zeitlos.
«Seven Up» – so heisst nicht nur ein bekanntes Erfrischungsgetränk, sondern auch eine Platte der deutschen Gruppe Ash Ra Tempel, die 1972 in Bern entstand. Im damals noch unbekannten Sinus Studio trafen sich Manuel Göttsching und seine Mitmusiker mit dem legendären US-amerikanischen Psychologen und LSD-Guru Timothy Leary. Das Ziel: eine Platte aufzunehmen. Die Referenz: Die sieben Bewusstseinsstufen, die man im Laufe eines LSD-Trips laut Leary erreicht.
«Wir hatten 1971 einen Text von Allen Ginsberg auf dem Cover unseres Debut-Albums abgedruckt. Mit ihm hätten wir gerne zusammengearbeitet, aber leider wusste niemand, wo er sich aufhielt. Da erfuhren wir Anfang 1972, dass Timothy Leary in der Schweiz weilte. Also fuhren wir nach Bern, um mit ihm zusammen eine LP zu produzieren.»
Der Harvard-Professor auf der Alp in Rüschegg
Timothy Leary, ehemaliger Professor für Psychologie in Harvard, war im September 1970 aus einem kalifornischen Gefängnis ausgebrochen und via Algier nach Europa gereist. Im Mai 1971 kam er in die Schweiz. Als der mit dem Slogan «Turn on, tune in, drop out» bekannt gewordene Leary in Lausanne von Touristen erkannt wurde, nahm ihn die Polizei fest, liess ihn aber nach einem Monat auf Druck von Freunden aus den USA und der Schweiz gegen eine Kaution von 20.000 US-Dollar wieder laufen.
Leary wurde auch nicht an die USA ausgeliefert, sondern durfte in der Schweiz bleiben, wo er bei den «49 Hippies aus bürgerlichem Hause, die es damals in der Schweiz gab», wie er frotzelte, unterkam.
Göttsching erinnert sich: «Wir haben auf der Alp gewohnt in Rüschegg und fuhren jeden Tag nach Bern ins Sinus Studio. Dort experimentierten wir herum, wir hatten die Band erweitert mit einem Organisten, einem Schlagzeuger und zwei Sängern, und erstaunlicherweise hatten wir bereits nach einigen Tagen die Basistracks für die sieben Stücke produziert, aus denen dann später ‹Seven Up› werden sollte.»
Das Konzeptalbum «E2-E4» wird Clubmusik
9 Jahre später experimentiert der klassisch ausgebildete Gitarrist Göttsching mit den ersten Synthesizern für den Hausgebrauch, mit Prophet, Moog und ARP Odyssey, sowie einem Drumcomputer mit Lochkarten. «Heute bekommt man Geräte geliefert, die 5000 Sounds gespeichert haben. Damals hingegen – ich arbeitete gerne mit Sequenzern – musste man sich anstrengen, damit überhaupt ein Ton generiert wurde.»
Göttsching entwickelt ein Konzept für ein Album, lässt eine Bandmaschine laufen und spielt 60 Minuten lang durch, alleine und ohne spätere Overdubs. Im selben Jahr besucht er Richard Branson, den Gründer von Virgin Records, bei der auch Ashra, die Nachfolgeband von Ash Ra Tempel, unter Vertrag steht, in London und spielt ihm Auszüge aus dem Werk vor. «Branson hatte sein kleines Kind auf dem Schoss», erinnert sich Göttsching. «Und das war während der Vorführung eingeschlafen. Darauf entgegnete Branson: ‹Manuel, you can make a fortune with this›.» Ein Vermögen hat Göttsching nie gemacht, aber das Werk gehört zu den wegweisendsten der neueren Musikgeschichte.
Wenn Kraftwerk auf Radiohead treffen und Steve Reich hören
Es dauert allerdings seine Zeit, bis das jemand mitbekommt. 1984 erscheint es unter dem Namen «E2-E4». Dann geschieht erstmal nichts, bis Göttsching erfährt, dass US-amerikanische DJs die Platte in ihren Clubs auflegen. Der legendäre Larry Levan spielt das Stück oft in voller Länge am Ende einer Clubnacht. «Das hat mich total überrascht, denn «E2-E4» war überhaupt nicht als Tanzmusik gedacht. Im Gegenteil: Ich komme ja eher aus der klassischen Ecke, und wollte ähnlich wie früher als Gitarrist auch hier etwas kreieren, was in der Tradition von Terry Riley oder Steve Reich angesiedelt war.»
Dass man zu «E2-E4» tanzen kann, erstaunt heute niemanden mehr. Die italienische Formation Sueño Latino verarbeitete das Album 1989 zu einem neuen Stück. Es erschien ebenfalls unter dem Titel «Sueño Latino» und wurde millionenfach verkauft. Die repetitiven ätherischen Klangmuster von «E2-E4» klingen auch 2016 noch völlig zeitlos. Es ist, als hätten sich Kraftwerk mit Radiohead getroffen und dabei Steve Reich gehört. Das Werk klingt elektronisch, aber gleichzeitig hat es etwas Organisches, Handgemachtes. Es schlägt die Brücke von der klassischen Minimal Music zur elektronischen Tanzmusik der 90er Jahre.
Und was macht Göttsching heute? «Ich höre wenig Musik, doch Musik zu machen, macht mir nach wie vor grossen Spass. Ich habe Musik für Stummfilme geschrieben und dafür zum Beispiel mit dem Kammerorchester des Staatstheaters Braunschweig gearbeitet. Weitere Angebote liegen vor. Und wenn mir etwas vorgespielt wird, dann höre ich mir das natürlich an.»
Europapremiere in Düdingen
Am Festival Bad Bonn Kilbi spielt Göttsching aber etwas etwas aus dem Jahre 1972 vor, und zwar die beiden legendären Ash Ra Tempel-Alben «Schwingungen» und «Seven Up». Ariel Pink, Shags Chamberlain und Oren Ambarchi werden Göttsching in Düdingen begleiten. Sie könnten seine Söhne sein.
«Als wir uns per Email kennenlernten, wollte ich erklären, was ich so mache, aber das war gar nicht nötig, denn die kannten das alles schon. Und dass wir ‹Seven Up› jetzt zur Aufführung bringen, 44 Jahre später, und quasi um die Ecke vom (einstigen) Sinus Studio, wo die Musik entstand, ist schon toll.»