Nein, diese Töne erwartet man hier nicht, im abgelegenen Dorf Concepción am Rande des Urwalds im Tiefland des östlichen Boliviens: Musik aus der Barockzeit mischt sich ins laute Zirpen der Zikaden. Aus den offenen Fenstern der grossen Kirche klingen nach dem Einnachten Streichinstrumente und helle Stimmen von Kindern und Jugendlichen.
Von Baar nach Bolivien
Ein Chor und ein Orchester üben eine Messe ein. Geschrieben hat die Musik vor drei Jahrhunderten ein unbekannter Komponist. Musikwissenschaftler schliessen aber nicht aus, dass dieser «Anonymus» Martin Schmid hiess, Jesuitenpater war und aus Baar im Kanton Zug stammte.
Der Jesuitenorden war im 17. und 18. Jahrhundert besonders aktiv im heutigen Paraguay und im Tiefland von Bolivien. Die Missionare erkannten rasch die Musikbegeisterung und die aussergewöhnliche Musikalität der indigenen Bevölkerung und nutzten sie für die Vermittlung des christlichen Glaubens. Die geistliche Musik aus Europa wandelte sich in Südamerika unter dem Einfluss der Musiktradition der indigenen Bevölkerung zum «Missionsbarock».
Martin Schmid kam 1730 in die Chiquitania, in das Gebiet der Chiquitos-Indios. Er gründete Musikschulen, lehrte die indigene Bevölkerung Musikinstrumente zu bauen und komponierte selbst Musik. Martin Schmid war auch Architekt: Unter seiner Leitung entstanden in drei Missionsdörfern grosse Kirchen. Sie sind heute Teil des Weltkulturerbes der UNESCO.
«Er war ein Genie»
«Martin Schmid war ein Genie, ein edler, kreativer Mensch», ist der polnische Pater und Musikwissenschaftler Piotr Nawrot überzeugt. Er forscht in Bolivien seit mehr als zwanzig Jahren über die Musik der Jesuitenmissionen. Schmid habe die Kultur der Indios sehr gut verstanden und sei von ihren Fähigkeiten überzeugt gewesen: «Für mich ist Schmid der Michelangelo der Chiquitania».
Schmids Tätigkeit kam 1767 zu einem abrupten Ende, als die Jesuiten aus Spanien und den Kolonien verbannt wurden. Doch die Musik aus den Missionen überlebte. Bis vor Kurzem spielten indigene Musiker in den Gottesdiensten Musik aus dieser Zeit nach Gehör. Die Fähigkeit des Notenlesens war schon vor Generationen verloren gegangen. Nicht verloren waren dagegen die Noten aus dieser Zeit. Es war nur nicht allgemein bekannt, wo sie sich befanden.
5000 Notenblätter gerettet
Erneut war es ein Schweizer, der sie wieder ans Tageslicht brachte: Der Architekt Hans Roth kam 1972 im Auftrag des Jesuitenordnes nach Bolivien. Er sollte die vom Zerfall bedrohten Missionskirchen retten. Bei der Restauration der Gotteshäuser kamen in Schränken in den Kirchen, aber auch in offenen Behältern, ungeordnet und verschmutzt, rund 5000 Notenblätter mit Musik aus dem 18. Jahrhundert zum Vorschein.
Hans Roth erkannte den Wert der Partituren sofort. «Er hat sie sich quasi unter den Nagel gerissen und in sein Büro transportiert, damit sie nicht noch mehr Schaden leiden», erzählt sein Sohn Christian Roth. Unterdessen lagern die geretteten und restaurierten Partituren sicher im «Archivo Musical de Chiquitos» in Concepción. Die Partituren sind aber erst zu einem kleinen Teil bearbeitet. Musikwissenschaftler haben bisher nur rund 15 bis 20 Prozent neu herausgegeben und dabei fehlende Teile rekonstruiert. Auf den meisten Notenblättern steht kein Name. Für die Jesuiten stand die Lobpreisung Gottes im Vordergrund, nicht der Komponist.
Barock-Boom
Die Wiederentdeckung der Partituren hat im Tiefland von Bolivien zu einem neuen Boom der Barockmusik geführt. Alle zwei Jahre bringt ein internationales Festival Barockensembles aus der ganzen Welt – auch aus der Schweiz – nach Bolivien. Und vor allem: In den Missionsgemeinden sind Jugendorchester und -chöre entstanden, welche mit Begeisterung die Musik aus dem 18. Jahrhundert einüben und aufführen – wie in der Kirche von Concepción, am Rande des Urwalds.