«Das tönt irgendwie nicht rein», dachte Fortunat Frölich schon als junger Autostopper, wenn er in Marokko Musik im Autoradio hörte. Trotzdem löste die Musik etwas in ihm aus. Das Fremde, das Andere, das reizte ihn schon in jungen Jahren. Der gelernte Cellist und Sänger spielte zwar ganz klassisch im Bündner Kammerorchester, suchte aber immer Kontakt zu Anderem, zum Beispiel zur Kleinkunst-Szene, in der er lange mit der Tessiner Volkslied-Sängerin «La Lupa» oder dem Schweizer Liedermacher Linard Bardill zusammenarbeitete.
Vor 20 Jahren wollte Frölich zum ersten Mal das ganz Fremde auf das Eigene treffen lassen. Als der Schweizer Musikrat – der Dachverband, der sich in der Schweiz für die Musik einsetzt – nach fremdenfeindlichen Zwischenfällen Projekte suchte, die sich mit Xenophobie auseinandersetzen, zögerte er nicht lange: Er versuchte, ausländische Musiker aus dem örtlichen Durchgangszentrum – «ich wollte das Projekt direkt am Krisenherd stattfinden lassen», wie er sagt – mit Schweizer Musik-Formationen zusammen zu bringen und diese in einer Kirche gemeinsam auftreten zu lassen, «um dem einen gewissen Rahmen zu geben». Kein einfaches Unterfangen: «So ein Chrüsimüsi kommt uns nicht in die Kirche!», bekam er da zu hören.
Das Wasser als Sinnbild
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Das Projekt rollte dann aber doch an und durch die Begegnung mit marokkanischen Musikern kam er wieder nach Marokko. Dort traf er auf die marokkanische Sängerin und Musiklehrerin Sanae El Amri und stellte später mit ihr, ihrem «Choeur du Maroc» und seinem eigenen «choR inteR kultuR» sein neuestes Projekt auf die Beine: «Chanta o unda» («Singe, oh Welle»).
Wiederum versucht er zwei Musiktraditionen miteinander zu verbinden, dieses Mal, indem er anhand von Liedern über Flüsse – den im Engadin entspringenden Inn und dem marokkanischen Bou Regreg – arabische, einstimmige Melodien polyphon arrangiert. Die Flüsse versteht er dabei als Sinnbild des Interkulturellen: Zwei fremde Welten, die ineinander fliessen.
Eigenes und Fremdes
Das klingt erst einmal unspektakulär, aber es prallen das Fremde und das Eigene ziemlich heftig aufeinander. Das Eigene für Frölich, das ist die Polyphonie, das mehrstimmige Komponieren und Musizieren, das sich nach der Verschriftlichung der Musik in Europa immer mehr entwickelt hat.
Das Fremde für ihn, das ist das Festhalten an der mündlichen Überlieferung und am einstimmigen Gesang. Während sich die europäische Tradition immer stärker um die Harmonik kümmerte, blieb die arabische bei einer Melodielinie, und Generationen von Musikern entwickelten – meist in der spontanen Improvisation – immer wieder neue Verzierungen, Ausdrucksnuancen und Phrasierungen.
Eine Verflechtung, keine Vermischung
Da die marokkanische Musik so keinem harmonischen Kontext entsprechen muss, muss sie sich auch nicht in Halb- und Ganztönen organisieren, sondern es können die Vierteltöne dazwischen beibehalten und gepflegt werden. «Dadurch ist bei uns eine riesige Bandbreite an Intervallen möglich», erklärt Sanae El Amri, die Leiterin des Choeur du Maroc. «Wir kennen sehr viele Tonarten und jede hat einen ganz eigenen emotionalen Gehalt. In der Improvisation um die Melodielinie kann so von einer Tonart in eine andere und wieder zurück gewechselt werden. Diese Freiheit im künstlerischen Ausdruck wird von Sängern und Musikerinnen ganz natürlich ausgeschöpft.»
Komplexe Verzierungen und harmonisch abgestimmter Chorgesang, lässt sich das wirklich zusammenführen wie zwei Flüsse? Frölich: «Mir geht es um eine Verflechtung, nicht eine Vermischung. Die Unterschiede der jeweiligen Musik sollen hörbar bleiben.» Tatsächlich, hört man seine Musik, fällt zuerst einmal das Trennende und später erst das Verbindende auf. Hörbar ist sie momentan allerdings erst in Ausschnitten im neuen Dokumentarfilm «Zwei Flüsse – zwei Lieder» über das Projekt, eine CD ist in Vorbereitung.
Allmähliches Herantasten
Und dass ein Verbinden der morgenländischen und der abendländischen Musiktradition keine Selbstverständlichkeit ist, musste Fortunat Frölich erst einmal am eigenen Leib erfahren. Das war harte Arbeit, auch wenn er heute vom Gedanken als Autostopper, dass diese andere Musik nicht rein klinge, weit entfernt ist: Unterdessen geniesst er die Vierteltöne. Aber, so Frölich: «Noch heute traue ich mir nicht zu, die arabischen Tonleitern korrekt zu spielen. Ich spiele sie, aber ich weiss, dass ich die Zwischentöne nur ungefähr platziere. Es dauerte, bis ich sie nur schon hören konnte, und lange Zeit habe ich sie ganz gemieden.»
Umgekehrt musste sich natürlich auch der Choeur du Maroc erst einmal an die für sie andere Musik gewöhnen. Im Gegensatz zu den Schweizern war das aber nicht eine völlig neue Welt: An den lokalen Konservatorien kann jedes Instrument sowohl klassisch als auch volksmusikalisch gelernt werden. Da ergeben sich auch Gelegenheiten, in einem Chor zu singen, «aber die Übung, eine zweite Stimme zu halten, fehlt; schnell stimmt der ganze Chor wieder in die Hauptstimme ein», so Frölich.
Knacknüsse überall
Für Sanae El Amri war die grösste Herausforderung indes eine ganz andere: «Für dieses Projekt mussten wir die Verzierungen der marokkanischen Melodielinie uniformieren – was eigentlich gar nicht möglich ist! Ohne völlige Freiheit in den Ornamenten ist der künstlerische Ausdruck sehr beschränkt. Entsprechend schwierig war es, gute Sängerinnen und Sänger zu finden, die dazu bereit waren. Das kostete viel Überzeugungsarbeit.»
Viel Arbeit forderte für die Bündner auf der anderen Seite nicht zuletzt die hochkomplexe marokkanische Rhythmik. Frölich dazu: «Da steht uns einfach unsere Prägung im Weg. Einmal sass ich in einem Konzert und versuchte eine halbe Stunde lang vergeblich, den Rhythmus zu erkennen. Plötzlich standen alle auf und klatschen ihn ganz selbstverständlich mit. Und das waren Leute aus allen Bevölkerungsschichten, die keine spezielle musikalische Bildung hatten – das war frappant.»