Wie sieht es in Zeiten von Erasmus, von internationalen Festivals und (fast) offenen Grenzen aus? Drei Stimmen äussern sich: zum Weggehen, zum Ankommen, aber auch zum Dableiben:
«Jeder ist ein ähnlicher Spinner.»
Dieter Ammann, Komponist in Zofingen: «Ich war nie in Darmstadt, ich war nie in Donaueschingen, ich war immer in Zofingen. Hier konnte ich werden, was ich heute bin. Zum Studium war ich in Basel, da fühlte ich mich als Jazzer an der Musikakademie schon manchmal etwas fremd, aber das hatte sicher mit mir und meiner Befindlichkeit etwas zu tun.
Aber selbst da kann ich sagen, dass sich für mich nichts Wesentliches geändert hat. Mein Freundeskreis in Zofingen blieb derselbe, ich hab zum Teil heute noch dieselben Kumpels. Das Bewusstsein, dass meine Eltern in der Nähe waren, das war mir schon wichtig. Einmal habe ich in Brittnau gelebt (4,4 km von Zofingen entfernt, Anmerk. d.Red.), da hab ich mich schon ziemlich weit weg von daheim gefühlt.
Natürlich bin ich zum Proben viel gereist, nach Zürich oder Basel und auch weiter weg. Aber generell würde ich doch sagen, dass gerade in der Neuen Musik die Herkunft überhaupt keine Rolle spielt. Egal, ob jemand aus Anatolien kommt oder New York oder eben aus Zofingen – jeder ist ein ähnlicher Spinner und macht sein Zeug. Dadurch versteht man sich.
Wo ich allerdings Grenzen gespürt habe, das war, als wir mit meiner Band tourten und ein Journalist schrieb, dass unsere Musik ‹die härteste Versuchung sei, seit es europäischen Funk gibt – und das ausgerechnet aus der Schweiz.› Da hab ich mich schon gefragt: ‹Ja, und warum denn nicht?›»
«Bern war wie ein Asylum für mich.»
Patricia Kopatchinskaja, Geigerin in Bern: «‹Patricia›, hat mir mein Lehrer in Köln gesagt, ‹komm nach Bern, da ist ein fantastischer Lehrer für dich. Und in Bern kannst du üben und wirst nicht abgelenkt.›
So habe ich Wien verlassen, wo ich zwar von Musik umgeben war und überall etwas zum Aufsaugen fand, Konzerte, Oper, meine Familie, wo aber vielleicht auch permanent viele Reize meine Antennen beschäftigt haben.
Es war die beste Entscheidung meines Lebens, ohne sie wäre bei mir alles ganz anders gelaufen. Erst in Bern konnte ich so richtig in mich hineinhören, täglich üben, stundenlang dasitzen, die Töne abmessen und sie so in die Finger einbetonieren, dass sie nie mehr falsch herauskommen.
Bern war wie ein Asylum für mich. Trotzdem hätte ich natürlich gerne meine ganze Welt mitgenommen, meine Familie, auch meine alte Heimat Moldawien. Das Einzige, was wirklich mitkam, das war die Geige. Ansonsten wusste ich gar nicht so genau, was denn ‹meine Welt› war. Ich schaute nach vorne.
Als ich nach Bern kam, erwartete ich, in der Hauptstadt der Schweiz zu sein. Und das sah dann so aus: Ich fragte am Bahnhof einen Würstchenverkäufer nach dem Weg zum Konservatorium. Er sagte mir: ‹Hier brauchen Sie keinen Stadtplan, gehen Sie einfach immer geradeaus, da kommen Sie an allem vorbei, was wichtig ist – auch am Konservatorium.›
Ich habe hier so offene und warmherzige Menschen getroffen, wie ich es vorher nicht gekannt habe. Und wenn es manchmal vielleicht ein bisschen eng ist, dann ist mir immer klar, dass ich es ja war, die das gewählt hat.
Wenn ich mich frage, wo ich heute zuhause bin, dann muss ich mir antworten, dass ich eigentlich immer zuhause und gleichzeitig eigentlich immer fremd bin. Ich glaube am meisten zuhause bin ich in meinen Tönen.»
«Kunst und Kultur brauchen eine Metropole, um sich zu entfalten»
Mathias Rüegg, Jazz-Pianist, Arrangeur und Komponist in Wien: «Ich bin im Prättigau aufgewachsen, war Lehrer und habe den Militärdienst verweigert.
Deswegen war ich vorbestraft und keine Schweizer Hochschule hätte mich mehr zum Musikstudium aufgenommen.
Damals gab es ausserhalb der Schweiz genau drei Hochschulen mit Jazz-Abteilungen: Budapest, Wien und Graz und ich schrieb an alle drei. Von Budapest habe ich nie etwas gehört, von Wien nach sechs und von Graz drei Monaten – und dort bin ich dann auch hingegangen.
Als ich über die Grenze in Richtung Graz reiste, hatte ich einen Koffer bei mir, mit dem schon meine Grosseltern 1914 nach Amerika abgehauen sind, um zu heiraten. Da waren meine Habseligkeiten drin.
Natürlich hatte ich mein Wurlitzer-Piano unter dem Arm. Das fiel dem Zöllner auf, und er pickte mich heraus. Er glaubte, dass ich hergereist sei, um das Instrument zu verkaufen. Als ich ihm beteuerte, dass ich dieses Instrument brauche für die Aufnahmeprüfung an der Hochschule, sagte er: ‹Dann spielen Sie mir jetzt den Donauwalzer.› Das war meine Ankunft in Österreich: Ich stand in einem Zöllnerbüro und spielte Johann Strauss.
Ich bin viel herumgekommen und habe mir viele Städte und Länder angeschaut. Schliesslich habe ich mich für Wien entschieden. Die Stadt hat die höchste Lebensqualität und sie hat alles, was ich an einer Stadt mag. Kunst und Kultur brauchen eine Metropole, um sich zu entfalten. Das ist in Wien so.»