Meistens ging es ihm um Musik. Dafür war er ja auch da. Michael Haefliger, dem Intendanten des Lucerne Festivals, waren gleich zwei Geniestreiche geglückt: Er konnte einerseits Claudio Abbado langjährig als Leiter des Lucerne Festival Orchestras engagieren, und er konnte gleichzeitig Pierre Boulez als Mentor und Dirigent der neu gegründeten Festival Academy gewinnen.
Die Academy sollte sich ausschliesslich der modernen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts widmen oder vielmehr der Vermittlung dieser Werke auf den verschiedensten Gebieten: Interpretation, Dirigieren, Komponieren – und schliesslich die öffentliche Aufführung des Erarbeiteten.
Er wollte das Publikum mit einbeziehen
Aber auch das Publikum sollte miteinbezogen werden, einerseits mit den heute üblichen Konzertgesprächen, aber auch mit ausführlichen öffentlichen Workshops. Werke oder einzelne Sätze wurden live gespielt, kommentiert und analysiert – meist mit Pierre Boulez selbst, manchmal mit andern Interpreten.
Dabei ging es um Boulez‘ eigene Werke, aber auch um moderne Klassiker wie Bartok oder Schönberg und um neue Werke jüngerer KomponistInnen. Ich hatte die Ehre, mehrere Jahre lang immer wieder sozusagen «Master of Ceremonies», also Moderator dieser Workshops zu sein. Das bedeutete, im Voraus die Musikausschnitte und Gesprächsthemen festzulegen und dann im Workshop den ganzen Ablauf zu moderieren.
Er wollte seine Vorstellungen vermitteln
Spannend war das, aber manchmal auch etwas irritierend. Denn Pierre Boulez war ein gewandter Sprecher und hätte den Kommentar zur Musik gut auch selbst machen können. Oft ging es ja auch ganz einfach darum, seine Ideen pragmatisch umzusetzen bzw. sie für ein grösseres Publikum verständlich zu vermitteln.
Aber er fühlte sich anscheinend in diesem Rahmen wohl, und wenn es einmal nicht gerade nach seinen Vorstellungen lief, so konnte er sagen: «Ich beantworte Ihnen auch gleich noch eine Frage, die Sie mir gar nicht gestellt haben».
Scherzhaften und humoristischen Bemerkungen war er überhaupt nicht abgeneigt – allerdings immer im Rahmen des Wohlanständigen, weit entfernt von den derben Zoten, die man (gerade auch) von Musikern hören kann.
Die «Speerspitze» der Avantgarde
In seinen jüngeren Jahren war es wohl manchmal noch lockerer zugegangen. So erinnerte Boulez sich an lange und wilde Nächte mit viel Alkohol, als er, gerade etwas über 20, die «Darmstädter Ferienkurse» besuchte. Dort trafen sich nach dem Zweiten Weltkrieg die jungen Komponisten seiner Generation, die sich dem Ideal einer avantgardistischen Musik verpflichtet fühlten.
Fotos zeigen den blutjungen Karlheinz Stockhausen in kurzen Hosen, den etwas älteren Pierre Boulez dagegen im Anzug mit Krawatte (für 20-Jährige damals nichts Ungewöhnliches). Boulez und Stockhausen waren – zusammen mit Luigi Nono und kurz auch John Cage – die «Speerspitze» der Avantgarde. Und «Speerspitze» hat hier durchaus die richtigen Assoziationen: Komponisten wie der etwas konservativere Hans Werner Henze wurde mit Verachtung und polemischer Kritik bedacht: Uninteressant, unnötig!
Das konnte sich dann durchaus auch gegen Seinesgleichen richten: Der spätere Stockhausen einer meditativ-intuitiven Musik? Uninteressant, schwache Musik wegen zu vielen Drogen in Kalifornien. John Cage? Uninteressant, hat keine musikalische Sprache …
Beiträge zu Pierre Boulez
Wirklich alles uninteressant?
Hier blieb Pierre Boulez immer der Alte, auch im Alter. Und er wusste es: Er sei ein gutmütiger Mensch, aber wenn es für ihn um Richtig oder Falsch gehe, dann könne er stur sein. Barockmusik? Das meiste uninteressant, auch die Franzosen. Historisch informierte Aufführungspraxis? Uninteressant, blosse Oberfläche.
Und es hatte keinen Sinn, mit Pierre Boulez über Solches diskutieren zu wollen. Da waren seine Meinungen gemacht. Auch beim «savoir-vivre» der Franzosen: In Frankreich spricht man zu viel vom Essen, uninteressant. (Immerhin: Ein Foto zeigt ihn in einer sonst blitzblank-leeren Küche beim Hantieren mit der Salatschüssel – im Anzug). Und auf Wein kann man gut verzichten, besoffen könne man sowieso nicht dirigieren. Ein kleines Törtchen zum Dessert dagegen gestattete er sich.
Vollends tabu waren Fragen zu seiner Person: völlig uninteressant, interessant sei lediglich seine Musik. Eine Home Story? Nie und nimmer! Seine Lieblingswerke? Er mache sowieso nur das, was ihn interessiere. Lieblingsbilder bei ihm zuhause? – Ach, alle geschenkt (immerhin, sehr interessant: Cy Twombly).
Meistens ging es ihm um Musik.