«Kullervo, Kalervon poika, sinisukka äijön lapsi» singt der Männerchor in Jean Sibelius’ Chorsinfonie «Kullervo». Was das genau bedeutet, dürfte sich den meisten Zuhörenden in der Tonhalle Maag nur mit Hilfe der Übersetzung im Programmheft erschliessen.
Die finnische Sprache, die Eindringlichkeit der grösstenteils einstimmig geführten Chorpartie sowie die selbstbewusste Überzeugung, mit der Paavo Järvi die Musizierenden die epische Tragödie des Rächers Kullervo darstellen lässt: Nur schon das zeigt, dass beim Zürcher Tonhalle-Orchester jetzt wieder ein visionärer Geist am Werk ist.
Ansporn und Ansehen
Järvi lässt bei seinem Einstand das Orchester einmal mehr über sich hinauswachsen, spornt es zu einer Höchstleistung an, wie es ihm schon bei früheren Gastdirigaten gelungen ist.
Der Gesamtklang ist bereits jetzt klarer austariert als in der Zeit seines Vorgängers Lionel Bringuier, die einzelnen Instrumentengruppen klingen homogener, das Zusammenspiel ist präziser.
Järvi konnte also seine auf Klarheit und Durchhörbarkeit zielende Ästhetik einbringen. Er führt damit die Arbeit von David Zinman fort, der dem Orchester um die Jahrtausendwende so internationales Ansehen bescherte.
Neue alte Aufstellung
Die offensichtlichste Neuerung auf dem Podium ist die Orchesteraufstellung: Järvi lässt das Orchester wieder in der sogenannten deutschen oder antiphonischen Aufstellung spielen, die ersten Geigen zu seiner Linken, die zweiten zu seiner Rechten und die tieferen Streicher profilierter positioniert in der Mitte.
Das war bis in die 1920er-Jahre die übliche Aufstellung für alle Orchester, bis sich vor allem aus aufnahmetechnischen Gründen die amerikanische Aufstellung mit den Geigengruppen nebeneinander durchsetzte.
Die Komponisten hatten bis dahin ihre Werke allerdings für die ursprüngliche Aufstellung konzipiert, etliche dialogisierende Stellen für die Geigenregister einkomponiert, die nur in der deutschen Aufstellung und damit in einer Art Stereo-Effekt zur Geltung kommen.
Zwingend ist sie etwa für die auskomponierte Zerrissenheit im Finale der «Pathétique» von Tschaikowsky, die Järvi im Oktober in Zürich dirigiert. Der 56-jährige Pultstar treibt damit die Integration der historisch informierten Aufführungspraxis ins Tonhalle-Orchesterspiel noch weiter als früher David Zinman.
Akzente im Programm
Auch im Programm setzt Järvi neue Akzente. «Kullervo» war in der Zürich noch nie im Konzert zu erleben, ebenso wenig die Neufassung von Arvo Pärts eher simpel aufgebautem Stück «Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte...», die Järvi gestern uraufführte.
Insgesamt erhält die Musik nordischer Komponisten nun deutlich mehr Raum neben dem klassisch-romantischen Stammrepertoire des Orchesters: Der neue Chef präsentiert Werke seiner zeitgenössischen estnischen Landsmänner Pärt und Erkki-Sven Tüür sowie Sinfonien von Carl Nielsen und Jean Sibelius.
Frischen Wind aus Nord-Nord-Ost bringt Järvi also nach Zürich, neuen Elan holt er aus dem Orchester heraus, was die so detailreiche wie ergreifende Aufführung von «Kullervo» bestätigt.
Er vermittelt die Dramatik des Werks und führt das Orchester, den Estnischen National-Chor und die Zürcher Singakademie sowie die hervorragenden Gesangssolisten Johanna und Ville Rusanen mit klarer Hand und überlegenem Weitblick durch das Riesenwerk.