Hippies, Rocker, Familien mit Kindern, junge Leute in knapper Kleidung: Die bunte Karawane aus Feierwütigen ist am Ziel. Schwer bepackt mit Planen, Kühltragetaschen, Zelten, Schwimmringen.
Manche verkleidet als flauschiges Einhorn, andere barfuss oder bunt geschminkt mit Blumen im Haar, Jugendliche im Rollstuhl oder mit Blindenstock.
Für drei Tage verwandelt sich ein ehemaliger Truppenübungsplatz im polnischen Kostrzyn in eine Stadt für sich: vier Hauptbühnen, Freiluftdusche, Fressmeile, Missionare aller Religionen, Menschen vieler Nationen und aller Altersklassen.
Security gibt es keine, keine Taschenkontrolle, keine Zäune. Gezeltet wird da, wo man will, irgendwo auf dem staubigen Acker. Viele bauen ihr Zelt dort auf, wo sie gerade stehen oder liegen.
Hommage an Woodstock
Bis vor einem Jahr hiess das Pol’and’Rock noch Haltestelle Woodstock, erzählt Krzysztof Dobies, Sprecher des Festivals – als Hommage an das legendäre Musikfestival von 1969 in den USA.
«Als das echte Woodstock stattfand, war Polen eine komplett andere Welt. Bei uns herrschte tiefster Kommunismus. Wir hörten erst spät von Woodstock, aber es faszinierte die Leute», erklärt Dobies.
Das friedliche Zusammensein der Menschen, die Musik, die Hippiebewegung – das faszinierte auch den polnischen Journalisten und Musiker Jurek Owsiak. 1994, nach dem Ende des Kommunismus in Polen, reiste er mit einigen Freunden nach Amerika zum Woodstock II, das zum 25. Jubiläum des originalen Woodstock-Festivals veranstaltet wurde.
Mythos lebt weiter
Ein Jahr später organisierten sie das erste Haltestelle Woodstock-Festival. 2018 mussten sie es aus markenschutzrechtlichen Gründen umbenennen. Das polnische Woodstock war inzwischen gewachsen, eine eigene Marke geworden und den Organisatoren des Woodstock von 1969 zu gross.
«Unser Festival war eine Hommage an das echte Woodstock, aber es war auch ein Vorstoss, diese Kultur nach Polen zu übertragen», so Dobies. «Wir glauben Woodstock hat die Welt verändert. Es hat Polen verändert. Und machte unser Festival so erst möglich.»
Der Mythos von Woodstock lebt hier weiter. So wie damals in Bethel bei New York, gelten auch in Kostrzyn Liebe und Gewaltlosigkeit als Prinzipien des Miteinanders.
Konzert ab Band
Zur Eröffnung des Festivals gibt’s Santanas «Soul Sacrifice» und Jimi Hendrix’ Version der US-amerikanischen Nationalhymne vom Band. Eine junge Frau schwimmt in der Menschenmenge vor der Hauptbühne.
Die den Einzelnen tragende Gemeinschaft ist – neben dem Freiheitsgefühl – Teil des Woodstock-Mythos von 1969. Wie damals, als es in Woodstock heftig regnete, wälzt man sich auch in Kostrzyn ausgelassen im Schlamm, dank Feuerwehr und Wasserwerfer.
Für Familien mit Kindern gibt es ein Kids-Village mit Spielplatz. Alkohol ist hier wie auch im Krishna-Dorf verboten. Kinder lassen sich hier schminken, es gibt Yogakurse, Meditation, viele tanzen mit den Krishnas, die alle bunte indische Gewänder oder Saris tragen.
Abseits der Hauptbühne hat sich die Akademie der Bildenden Künste Warschau eingerichtet. Ein Ort, an dem junge Menschen mit bekannten Politikern, Künstlerinnen, Musikerinnen, Schauspielern und religiösen Führern zusammentreffen können.
Buntes, inklusives Festival
Dieses Jahr stehen die Rechte der Schwulen und Lesben im Fokus. Ein aktuelles Thema nach dem Angriff von rechtsextremen Hooligans auf die LGBT-Parade im ostpolnischen Bialystok am 20. Juli 2019.
Vor allem dieses Rahmenprogramm ist den Konservativen ein Dorn im Auge – die Diskussionen mit regierungskritischen Prominenten und Intellektuellen.
Dass jedes Jahr hunderttausende Jugendliche aus ganz Polen zum Pol’and’Rock strömen, gefällt weder der Kirche noch der nationalkonservativen Partei PiS.
Die polnische Polizei hat das Musikfest wegen angeblich potenzieller Terroranschläge und Prügeleien als eine Veranstaltung «mit erhöhtem Risiko» eingestuft. Doch all das hindert die Menschen nicht daran hierherzukommen. Auch im August 2019 findet das Festival wieder statt.
Für viele ist das Festival ein Pflichttermin. Barry aus dem Spreewald reizt, dass das Festival so bunt ist. «Es gibt Metal, Hippies, Punks, Gothics, sogar Nazis laufen hier rum und es funktioniert», sagt der 36-Jährige.
«Für mich bedeutet dieses Festival Freiheit», sagt Simon. Gosia ergänzt: «Jeder kann hier sein, wer er will und keiner verurteilt dich dafür. Das ist schön, jeder ist willkommen.»
Auch taube, blinde oder bewegungseingeschränkte Menschen. Piotr etwa sitzt im Rollstuhl. Der 23-Jährige ist alleine unterwegs: «Das ist kein einfaches Gelände für einen Rollstuhl. Aber alle helfen dir hier. Das ist so toll!»
Das neue Woodstock?
Das Pol’and’Rock unterscheidet sich also von anderen Festivals, auch weil es nicht kommerziell ist. «Wir organisieren es nicht, um reich zu werden. Wir machen es fürs Publikum. Die sollen Spass haben», sagt Dobies.
«Aber wir wollen auch die Toleranz und Offenheit füreinander fördern. Und den Leuten zeigen, dass wir Gewalt, Aggression, Hass und jede andere Art solchen Verhaltens nicht dulden.»
Der Mythos, die Realität
Viele Veranstaltungen in Polen, die ein weltoffenes, proeuropäisches, liberales Polen bieten, seien in den letzten Jahren boykottiert worden. «Das hier ist also auch ein bisschen das Jahrestreffen des liberalen Polens», so der 36-jährige Festivalbesucher Barry.
Ist das Pol’and’Rock also das neue Woodstock? «Nein!», sagt Barry. Das echte Woodstock sei mystifiziert worden. «Es war komplett kommerziell und äusserst schlecht geplant. Es war kein Akt der Nächstenliebe. Das polnische Festival verkörpert, was Woodstock hätte sein sollen!» Hier wird der Mythos gelebt.