Zuerst rattert es nur leise, wenn sich das Reproduktionsklavier in Gang setzt. Nach ein paar Sekunden, wenn auf der eingespannten Papierrolle die ersten Löcher über die Vakuumventile rollen, beginnt die Magie.
Wie von Geisterhand erklingt Claude Debussys Walzer «La plus que lente». Die Hämmer schlagen von allein auf die Saiten, mal fest, mal sanfter. Tatsächlich ist es der französische Komponist selbst, der seinen eigenen Walzer wiedergibt – mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod.
«Das Faszinierende ist: Das Instrument macht alles selbst, nahezu so, wie es der Künstler damals gespielt hat. Wir haben ein Aufnahmemedium, das nicht nur die Reihenfolge der Töne, das Tempo, aufzeichnen konnte. Sondern eben auch die Nuancierung, die Lautstärke, die Dynamik», sagt Sebastian Bausch, Musikwissenschaftler an der Hochschule der Künste Bern HKB.
Ein musikhistorischer Schatz
1912 hat Debussy das Stück im Studio der deutschen Firma Welte eingespielt. Seine Interpretation wurde auf eine Papierrolle gestanzt. Wie genau dieses Aufnahmeverfahren funktionierte, ist nicht restlos geklärt. Die Firma hat das Geheimnis nie verraten, ihre Infrastruktur wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Geblieben ist aber ein musikhistorischer Schatz, aufgerollt auf abertausenden Metern gelochtem Papier. Komponisten wie Gustav Mahler, Edward Grieg oder eben Claude Debussy spielte im Welte-Studio eigene Werke ein – zu einer Zeit, als Tonaufnahmen mehr rauschten als klangen.
Dank den Rollen «hören wir die letzten Spuren einer Musiziertradition, die das ganze 19. Jahrhundert überdauerte», erklärt Bausch. Thomas Gartmann, Forschungsleiter an der HKB, ergänzt: «Wenn man hört, wie die Komponisten selbst ihre Notentexte interpretierten, merkt man, dass man damit eigentlich sehr viel lockerer umgehen kann.»
Führende Forschungsinstitution
Die HKB ist in den vergangenen Jahren zu einer führenden Institution in der Forschung der Papierrollen avanciert – auch in Zusammenarbeit mit dem Museum für Musikautomaten im solothurnischen Seewen, wo rund 6000 solcher Rollen für selbstspielende Klaviere und Orgeln lagern.
Die Wissenschaftler haben eigens ein Verfahren entwickelt, um die fragilen Papierrollen zu digitalisieren. So bewahren sie das Kulturgut, an dem auch der Zahn der Zeit nagt. Und ermöglichen eine zuverlässige, digitale Wiedergabe der aufgezeichneten Interpretationen – frei von Verschleiss und der schwankenden Tagesform der Reproduktionsinstrumente.
Ein nicht zu unterschätzender Vorteil für die Forschung, aber auch für die Lehre, sagt Sebastian Bausch: «Da haben sich ganz neue Tore geöffnet. Durch die Workshops, die wir durchführen, haben wir realisiert, wie relevant dieses Material auch für die Ausbildung von jungen Pianistinnen und Pianisten ist.»
Mehr Nonchalance, weniger Standard
Was uns zurückbringt zu Debussy und seiner Aufnahme des Walzers «La plus que lente»: «Er spielt die Valse flüchtig, manchmal richtig frech», sagt Gartmann, «lässt manchmal ganze Takte weg.» Unerhört für das zeitgenössische Publikum, das sich an standardisierte Interpretationen gewöhnt hat.
«Hört man nun, wie man früher mit dem Notentext umgegangen ist, stellt sich eine gewisse Lockerheit ein. Und ich würde mir wünschen, dass sehr viel mehr von dieser Nonchalance über die Bühne zum Publikum kommt», sagt der Forschungsleiter.
Wenn nicht über die Bühne, dann wenigstens über das Internet. Auf der Website Magic Piano lädt die HKB nun laufend neue digitale Abspielungen von Papierrollen hoch, anhand derer man sich direkt von der künstlerischen Nonchalance um die vorletzte Jahrhundertwende inspirieren lassen kann.