Heinz Holliger ist ein Phänomen. Was in diesem Kopf mit der berühmten diagonal gekämmten Haarsträhne alles Platz hat, können sich nur seltene Exemplare der Spezies Mensch vorstellen. Nicht nur ist da ein enormes Wissen gespeichert, sondern alles steht in Bezug zu allem. Dieser einzigartige Kosmos drückt sich auch für Holligers Publikum unmittelbar aus, wie kürzlich in seiner Oper «Schneewittchen» am Theater Basel zu erleben war. Die Klänge schweben vielschichtig durch den Raum, wir haben das Gefühl, nur einen Bruchteil davon mitzubekommen. Gleichzeitig wirken sie suggestiv und lassen niemanden kalt.
Zuerst die Oboe...
Die ersten Erfolge feiert Heinz Holliger als Oboist. Als sich in der Schweiz erst ein paar belächelte Exoten mit Barockmusik befassen, spielt er sie bereits auf Platte ein und entdeckt ganz nebenbei einen unterschätzen Barockkomponisten namens Jan Dismas Zelenka. Für die neue Musik entwickelt er bald eine Reihe neuer, anspruchsvoller Spieltechniken und erweitert so ihr klangliches Spektrum um ein Vielfaches.
Last but not least zeichnet ihn das aus, was heutige Marketingexperten USP (Unique Selling Point) nennen: Ein unverwechselbarer Ton, hell, direkt, klar, leicht nasal. Den gibt er später an viele Schüler weiter, und über Jahre prägte der «Holligerton» unsere Wahrnehmung der Oboe.
...dann das Komponieren
Aber Holliger fängt auch früh mit Komponieren an. Er studiert schon mit knapp über 20 bei Pierre Boulez und wird wie dieser zu einem der einflussreichsten Komponisten und Kulturpolitiker seiner Generation. Holligers frühe Stücke sind Kinder ihrer Zeit. Diese frönt einer strengen und kompromisslosen Avantgarde und stellt das Publikum vor echte Herausforderungen.
Holliger will das auch, alles Seichte und Anbiedernde ist ihm ein Gräuel. Wer sich die Noten anschaut, wird erst einmal blass: Das Bild ist dicht, die Spielanweisungen kaum zu zählen, der Rhythmus komplex, die Tonsprünge gross. Anfangs beissen sich die Interpreten daran die Zähne aus, so viel verlangt Holliger von ihnen.
Heute ist das anders, viele Musiker beherrschen diese Techniken. Dennoch gilt Holliger noch immer als einer der kompromisslosesten, auch wenn seine späteren Stücke vielleicht etwas milder geworden sind.
Schliesslich das Dirigieren
Am zugänglichsten ist unser Universalgenie als Dirigent. Auch deshalb, weil er seine Lieblinge Schumann und Mendelssohn so jung klingen lässt und dabei so agil auf dem Podium herumtänzelt, dass es kaum zu glauben ist. Vor allem in Schumann scheint er einen Seelenverwandten gefunden zu haben, an dessen Musik er das Aufbrausende betont, das Neue, den Aufbruch in eine andere, hoffentlich bessere Zeit.
Gespräche mit Kollegen, Interpretinnen und Weggefährten ergeben alles andere als ein eindeutiges Bild des Künstlers. HH, wie sein gar nicht mal so heimlicher Übername lautet, ist eben viele in einem. Kompromisslos und konservativ. Spitzbübisch und schwerelos. Ein ganz eigener Kosmos eben.
Musikerinnen und Musiker über Heinz Holliger
Viviane Chassot
Viviane Chassot ist klassische Akkordeonistin und spielte diese Saison im Theater Basel den Akkordeonpart in Holligers «Schneewittchen». «Heinz Holliger hat eine spitzbübische, fast kindliche Seite, ist aber gleichzeitig sehr intellektuell und rational. Zwei extreme Pole – faszinierend. Meinen Part in «Schneewittchen» habe ich zuerst als sperrig wahrgenommen. Im Lauf der vielen Vorstellungen bin ich dann stärker mit der Musik verwachsen und habe jedes Mal neue Welten kennen gelernt. Seine Musik erschliesst sich nicht oberflächlich, sondern braucht sehr viel Zeit.»
Roland Moser
Roland Moser ist Komponist und fast gleichaltriger Weggefährte Holligers. «Heinz Holligers Musik hat ein extrem reiches Innenleben, von dem wir nur einen Teil mitbekommen. Er hat einen Kosmos voller Bezüge in seinem Kopf, da hängt alles mit allem zusammen. Das könnte erschreckend sein, ist es aber nicht, sondern seine Musik wirkt sehr suggestiv. Gefühl und Intellekt sind keine Gegensätze, sondern schaukeln sich gegenseitig hoch.»
Matthias Arter
Matthias Arter ist wie Holliger Oboist, Dirigent und Komponist, Heinz Holliger war sein letzter Oboenlehrer. «Heinz Holliger ist ein Gesamtmusiker. Dass er so viele Dinge so gut kann, Komponieren, Oboe spielen, Dirigieren, das kommt aus seiner Persönlichkeit. Es genügt ihm nicht, nur etwas zu machen. Viele seiner Kompositionen gehen über die Grenze hinaus, auch physisch. Und das macht seine Musik unverwechselbar. Grenzen zu akzeptieren ist ihm fremd. Er kennt keine Halbheiten, er will allem immer auf den Grund gehen.»
Jörg Widmann
Jörg Widmann ist Komponist und Klarinettist und steckt mitten in einer internationalen Karriere. «Bei Heinz Holliger spüre ich immer etwas, das sich verflüchtigt, den Boden unter den Füssen verliert, wegschwebt. Er wendet die strengsten Kompositionsprinzipien an mit dem Ziel, das Gewicht abzuschütteln, und oft schwebt seine Musik geradezu psychedelisch in den Himmel. Querständig und fremd – diese Worte passen gut zu ihm. Er braucht, glaube ich, das Querständige, um zu wunderbar einfachen Resultaten zu kommen. Und manche Stücke treffen mit ihrer Fremdheit mitten ins Herz.»
Johannes Kreidler
Johannes Kreidler ist ein Komponist der jüngeren Multimedia-Generation. «Heinz Holliger gehört ganz klar der klassischen Musik an und hält sich bei aller Experimentierfreude an die klassischen Konventionen. Wenn ich zum Beispiel an Karlheinz Stockhausen denke, was der in den 1950er- und 1960er-Jahren schon alles erobert oder gefunden hat an Konzepten, Instrumentarium, an Möglichkeiten der Elektronik und Performance! Dennoch bewundere ich vieles von Holliger, zum Beispiel seinen «Scardanelli-Zyklus». Andererseits will sich meine Generation von dieser bildungsbürgerlichen Art («Hölderlin vertonen») und dem klassischen Kanon schon abgrenzen.»
Annette Schmucki
Annette Schmucki ist Komponistin und wurde von Holliger sehr unterstützt. «Vielleicht ist Heinz Holliger der letzte Monarch. Hanns Eisler hat mal über Arnold Schönberg gesagt: ‹Der Untergang des Monarchentums, aber was für eine Abendröte!› – das könnte ich vielleicht auch auf Heinz Holliger anwenden. Warum mir das in den Sinn kommt? Weil Holliger sich wie Schönberg an die alten Formen hält, an die alten Regeln. Wenn ich ehrlich bin, halte ich ihn für einen sehr konservativen Komponisten, klassisch und rückwärtsgewandt. Mich persönlich hat er sehr unterstützt, und obwohl ich ihn nicht kannte, hat er sich sehr für mich eingesetzt.»
David Philip Hefti
David Philip Hefti ist Komponist, der gerade eine internationale Karriere erlebt. «Ich konnte schon mehrmals mit Heinz Holliger zusammenarbeiten, und es ist einfach sehr beeindruckend und bereichernd. Je älter er wird, desto kompromissloser wird er, obwohl er schon ganz früh kompromisslos war. Das ist in der heutigen Musikszene selten. Ich finde, wir brauchen solche genialen Köpfe wie ihn. Das Wichtigste, was ich mitnehmen kann: Weder links noch rechts schauen, was den Leuten gefallen könnte, sondern das durchziehen, was ich im Kopf und im Herzen habe. Das lebt er vor, da ist er ein riesiges Vorbild.»
Maria Riccarda Wesseling
Maria Riccarda Wesseling ist Mezzosopranistin und spielte diese Saison im Theater Basel die Königin in Holligers «Schneewittchen». «Diese Rolle von Heinz Holliger gehört zum Schwersten, was ich je gemacht habe. Zum Beispiel die Tonschritte, die sind sehr schwierig zu lernen. Oder die komplizierten Rhythmen, die wechseln eigentlich von Takt zu Takt, und nie ist einmal ein Taktmass gerade. Da ist so viel Information drin, dass ein normaler Geist das gar nicht alles wahrnehmen kann. Wenn ich lese und sehe und weiss, was Heinz Holliger an Erfolg und Preisen eingeheimst hat und wer ihn alles ehrt, dann denke ich: Er könnte auch mal zurücklehnen, sich ein gutes Glas Wein eingiessen und einfach nur glücklich sein über all das, was er schon erreicht hat. Ich hoffe, dass ihm das in nächster Zeit ganz oft gelingt.»