Luzern, im September 2024. Beim renommierten Lucerne Festival kündigt sich eine Revolution an: Ein junges Orchester spielt die grosse 7. Sinfonie von Anton Bruckner – ohne alles, was in der Klassik heilig ist: ohne Dirigent und ohne Noten, dafür mit Schlagzeug, E-Gitarre und viel Raum für Improvisation.
Dazu gibt es eine Choreografie, die die Musik in Bühnengeschehen übersetzt. Getanzt und gespielt wird von den Orchestermitgliedern selbst, während sie musizieren. Wie ist das möglich?
Alte Zöpfe abschneiden
Angefangen hat alles 2015 in Berlin: Eine Gruppe junger Musikerinnen und Musiker hat genug vom konventionellen Klassikbetrieb, wo die Intendantin über das Konzertprogramm entscheidet. Wo der Dirigent bestimmt, wie es gespielt wird. Wo alles hierarchisch organisiert ist. «Da fehlt einem die Selbstwirksamkeit», sagt Geiger und Orchestermitglied Lorenz Blaumer.
Auch das konventionelle Sinfoniekonzert mit strenger Kleiderordnung, strikter Trennung zwischen Publikum und Bühne, Applaus erst ganz zum Schluss – all das wirkt für die jungen Musiker nicht mehr zeitgemäss.
An der Gegenwart andocken
Deshalb gründen sie ein neues Orchester: Stegreif – The Improvising Orchestra. Für jedes Projekt nehmen sie sich eine grosse Sinfonie der Klassik vor und entwickeln im Kollektiv eine Version, die in der Gegenwart andockt. So entsteht ein Werk, das originale Teile mit modernen Arrangements ergänzt – und ganz viel Raum für Improvisationen lässt.
Das neue Werk lernen alle auswendig – das ist anspruchsvoll bei einer einstündigen Sinfonie. Aber es hat einen grossen Effekt: «Es entsteht eine andere Energie auf der Bühne», sagt die Geigerin Milena Gutjahr, gebürtige Baslerin. «Wir sind enger miteinander verbunden – weil wir keine Noten vor den Augen haben.»
Tischgespräche und Trauerprozession
Erst das Auswendig-Spielen ermöglicht es, die Musik zu inszenieren: mit dezenten Kostümen, Choreografie und Lichteffekten. Auch beim Konzert im Luzerner Saal des KKL gibt es eine Bühnenhandlung, die den Fokus auf die Musik legt.
In einer Szene sitzen die Musikerinnen am grossen Tisch und werfen sich die musikalischen Themen wie bei einem Gespräch zu. Dann findet sich eine kleine Gruppe mitten im Publikum zu einem Streichquartett zusammen, und schliesslich formiert sich das Orchester zur Trauerprozession – das Publikum ist so ergriffen, dass es sich von den Sitzen erhebt, lange bevor die Sinfonie zu Ende ist. Ist das die Revolution der Klassik?
Bruckner, bezaubernd
«Darum geht es uns gar nicht», sagt der Geiger Lorenz Blaumer, «uns geht es um Nähe und Berührung. Wir versuchen, Situationen zu schaffen, in denen echte Verbundenheit entsteht, zwischen den Musikerinnen und Musikern, aber auch zum Publikum.»
Das dies immer wieder gelingt, davon zeugen zahlreiche Preise, die das Stegreif Orchester jedes Jahr einheimst. Und die Standing Ovations beim Konzert im KKL beweisen: Auch das Publikum des Lucerne Festivals, das die konventionellen Sinfoniekonzerte nach wie vor schätzt, lässt sich von dieser modernen Auslegung von Anton Bruckners 7. Sinfonie verzaubern.