Bei elektronischer Musik denken viele zuerst an Techno. Aber am experimentellen Ende dieses Genres steht die radiophone Klangkunst – das sind experimentelle Werke, die Musikerinnen und Musiker speziell für das Radio entwickeln. Während im Hörspiel Sprechstimmen erzählen, ist es hier allein der Sound.
Solche Radio-Stücke haben ihre eigenen Gesetze: Die Hörsituation ist weniger fokussiert als im Konzert. Man weiss nicht, ob das Publikum über Kopfhörer, Stereoanlage oder das uralte Küchenradio zuhört und ob es nicht zwischendurch telefoniert oder die Teller abwäscht.
«Deswegen darf die Komposition in ihren Details nicht zu filigran sein. Ein Spannungsbogen ist wichtig», sagt der Audiodesign-Student Martin Reck, der am Elektronischen Studio der Hochschule für Musik FHNW Basel gerade seinen Master abschliesst.
Aufnahmen auf einer rostigen Stahlbrücke
Für sein Stück «Zwei Brücken», das er für die Ausstrahlung auf Radio SRF 2 Kultur komponiert hat, hat er einen Tag auf einer stillgelegten Eisenbahnbrücke verbracht, die im nördlichen Basel über den Fluss Wiese führt. Dort hat er seine Stimme, Schritte über den Schotter und Perkussionen auf dem rostigen Stahl aufgenommen.
Diese Fieldrecordings hat er am Computer elektronisch weiterverarbeitet, Effekte, Filter und Synthesizer hinzugefügt. Sein Ansatz ist ein erzählerischer, vielleicht sogar ein therapeutischer: In seinem Stück verarbeitet er eine brutale Szene aus Ivo Andrics Roman «Die Brücke über die Drina», die ihn bis heute nicht loslässt.
Hommage an ein nostalgisches Medium
Auch der Kompositionsstudent Isaac Blumfield hat mit Fieldrecordings von Vögeln, Wald oder Wasser gerarbeitet. Trotzdem aber bleibt sein Stück «Worn Like a Map» weitestgehend abstrakt. Die akustischen Bilder, die er kreiert, sind wuchtig: «Ich hatte beim Komponieren Träume vor Augen. Aber nicht die schönen, sondern die verwirrenden und widersprüchlichen.»
Blumfield fand es herausfordernd, einen inneren Zusammenhang herzustellen: «Beim Radio weiss ich ja nicht, zu welchem Zeitpunkt das Publikum einschaltet. Mein Stück muss also auch funktionieren, wenn man die ersten fünf Minuten verpasst hat.»
Für ihn, der Musik streamt und in seinem Alltag eher Podcasts hört, ist das Radio ein nostalgisches Medium. Es erinnert ihn an seine Kindheit in Minnesota: «Ich habe mit meinen Eltern auf langen Autofahrten Radio gehört und so Musik entdeckt, auf die ich sonst nie gekommen wäre.»
Elektronische Klanglabore am Radio
Die Zusammenarbeit zwischen dem Elektronischen Studio der Hochschule für Musik FHNW und Radio SRF 2 Kultur knüpft an eine lange Tradition an. Denn die Geschichte der elektronischen Musik ist eng mit dem Radio verbunden: In den 1950er-Jahren waren es die öffentlichen Radiostationen wie RTF in Paris, WDR in Köln oder Rai in Mailand, in denen elektronische Studios gegründet wurden.
«Die Pionierwerke elektronischer Musik wurden in diesen Studios produziert und fanden über das Radio ihr erstes Publikum,» sagt Svetlana Maraš, Professorin für Creative Music Technology und Co-Leiterin des Elektronischen Studios.
In den Nachkriegsjahren war das Radio das Hauptinformationsmedium. Es war mit der neuesten Technologie ausgestattet, von Oszillatoren über Sequenzern bis zu Synthesizern und Tonbandmaschinen – Technik, mit der später auch Bands wie The Who, Pink Floyd oder Kraftwerk experimentierten.
Elektronische Musik geht mit der Zeit
Das elektronische Studio der Musik-Akademie Basel wurde 1975 gegründet, schon damals konnten Studierende Einführungskurse in elektronischer Musik belegen. Zugang zu einem hochspezialisierten Studio zu haben, war zu der Zeit aber noch ein Privileg. Heute schaffen die Studierenden elektronische Musik am eigenen Laptop und kommen mit grossem Vorwissen aus einer DIY-Kultur.
Das heisst aber nicht, dass digital immer besser ist: Dem Audiodesign-Student Louis Keller haben es die alten Synthesizer und analoge Geräte im Elektronischen Studio Basel angetan.
Für eine Performance hat er Klavierakkorde auf Tonband aufgenommen und die Bänder mehrere Meter von einer Maschine zur anderen gespannt. «Der analoge Klang hat eine einzigartige Breite und Tiefe». Seine Perfomance «Bradycardia» hat er für das Semesterprojekt mit SRF nun für das Radio übersetzt.
An die Aufgabe für das Radio zu komponieren, sind die Studierenden des Elektronischen Studios Basel also ganz unterschiedlich herangegangen. Dies hat wie von selbst dazu geführt, dass die Podcast-Generation eine neue Faszination entwickelt hat für dieses Medium, das 100 Jahre alt ist.