Harlem, New York. Vor dem Apollo-Theater drängen sich die Menschen unter ihre Regenschirme. Die Männer im Smoking, die Frauen im Abendkleid und Blumen im geflochtenen Haar. Sie drängeln in das Theater. Hinter der Bühne bereiten sich Frankie Manning und Hilda Morris vor für den Tanzwettbewerb.
Wir schreiben das Jahr 1934. Die Bläser setzen an. Die Big Band beginnt zu spielen. Das Paar wirbelt über die Bühne und gewinnt: eine Woche Tanzshow mit Duke Ellington. «Can you imagine?!», schreibt Swing Tänzer Manning in seiner Biographie. Es war der erste Tanzauftrag für den damals 20-jährigen Afroamerikaner aus Florida. Ein unbekanntes Gesicht. «What’s your name, kid?», fragte ihn Duke Ellington.
Vielleicht war dies der Anfang der Geschichte einer beispiellosen Tanzkarriere – eines Mannes, der den Lindy Hop in die Welt hinaustrug und der heute von tausenden Menschen von Südkorea über Russland, Mozambique, Brasilien bis in der Schweiz getanzt wird. 80 Jahre nach Mannings Auftritt und die Zeit scheint stehen geblieben zu sein. Ins Apollo-Theater strömen heute erneut 2000 Menschen, in Vintage gekleidet. Es ist die Eröffnungsfeier zu Ehren der vor sechs Jahren verstorbenen Ikone des Swingtanzes. 100 Jahre Frankie Manning.
«Du bist zu steif»
Tanzgbegeisterte aus 47 Ländern sind für die mehrtätige Feier nach New York gereist. Auf der Bühne des majestätischen Saals lassen sich heute Verbliebene aus Frankies Umfeld und der Swing-Ära feiern: Tänzerin Norma Miller, Musikerin Dawn Hampton, oder Mannings Sohn und Tänzer Chazz Young.
Sie stehen auf der Bühne, wo früher Jazzgrössen wie Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan oder Chick Webb das Publikum begeisterten – anfangs nur weisses Publikum, erst 1934 waren auch Afroamerikaner als Zuschauer zugelassen. Die Musiker waren Freunde und Arbeitskollegen Mannings. «Er war teil dieser Jazzwelt. Mein Vater und Ella Fitzgerald waren befreundet und tanzten zusammen», sagt Mannings Sohn.
Dass es soweit kam, grenzt an ein Wunder: Am 26. Mai 1914 kommt Frankie Manning in Florida zur Welt. Als Junge zieht er mit seiner Mutter ins New Yorker Schwarzen-Viertel Harlem. Ein hartes Pflaster. Früh ist er unter Tanzfreudigen, seine Mutter ist eine Partynudel. Mit zwölf nimmt sie ihn mit zum Kurs – Charleston, Foxtrott, Two-Step. Die Musik ist aus und Frankies Mutter sagt: «Du wirst nie ein Tänzer. Du bist zu steif.»
«Ihre Kritik machte mich zuerst traurig. Aber dann wollte ich es erst recht lernen. Ich zog mich ins Zimmer zurück und tanzte mit einem Besen – und bewegte mich so wie die Erwachsenen.» Dies schreibt er in seiner von ihm und Cynthia R. Millman geschriebenen Biographie «Ambassador of Lindy Hop».
Er übt weiter, geht mit seiner Mutter aus – sogenannte Social Dances. «Normalerweise habe ich nur zugeschaut. Aber manchmal tanzte ich mit. Dort habe ich gelernt, was es heisst, zu tanzen.» Harlem war das Epizentrum der Swing-Kultur. «Praktisch an jeder Ecke hatte es einen Ballroom mit Big Bands, die für Tänzer spielten», erinnert er sich. Alhambra, Renaissance oder das Savoy sind nur die Bekanntesten.
«This is dancin’ heaven!»
Bald wagt er sich mit einem Freund an die ersten Partys. Big Bands für die Jungen. Er steht erstmals im Alhambra: «Diese ganzen Kids tanzten wie Verrückte! So etwas hatte ich noch nie gesehen», schreibt Manning. Von da an ist er nicht mehr aufzuhalten. Er verliert seine Steifheit, tanzt durch die Nächte. Geht übermüdet aber glücklich zu seiner Arbeit als Kürschner, um am Abend wieder auf dem Parkett zu stehen.
Sein erster Besuch im Savoy Ballroom überwältigt ihn. 2000 Tänzer in einem Raum. «Ich stand da mit offenem Mund. This is dancin’ heaven!» Zum ersten Mal sieht er: Es tanzen fast alle Lindy Hop. In den anderen Clubs war Foxtrott und Two-Step en vogue. Und: Weisse und Schwarze tanzten zusammen. Der Tanzclub eröffnete 1926 und war der erste in der Geschichte, der beiden Rassen offenstand. Manning schreibt: «Das einzige, was zählte, war: Kannst du tanzen?»
Auftritt in Zürich – mit heisser Schokolade
«Wir durften nicht in Hotels oder Restaurants. Einzig im Savoy Ballroom war die Hautfarbe egal», sagt Norma Miller zu SRF Kultur Online. Die 94-Jährige ist zur Feier von Florida nach New York gekommen. Wie Manning zählte sie damals bald zu den besten Swingtänzern im Savoy – und in ganz New York.
Sie tourten mit den «Whitye’s Lindy Hoppers» durch die Welt. «Einer unserer ersten Auftritte war in Zürich. Dort schliefen wir in den bequemsten Betten und tranken die beste heisse Schokolade», sagt Miller. Sie reisten nach Australien, Lateinamerika und tanzten in Filmen wie Hellzapoppin’ (1941). Frankie wurde zum Choreograph und Kopf der Gruppe. «Er war der Beste. Schauen Sie sich nur den Tanzausschnitt an in ‹Hellzapoppin’›», sagt Norma Miller heute und fügt an, «das war definitiv der Höhepunkt seiner Karriere».
Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Die Tanzgruppe löste sich auf. Manning wurde eingezogen. Als der Krieg vorbei war, gründete er 1946 eine Gruppe «The Congaroo Dancers». Doch als 1950 Rock'n'Roll populär wurden, war er nicht mehr gefragt. Er zog sich zurück – laut Norma Miller litt er an einer tiefen Depression. Er wurde Briefträger, gründete eine Familie und tanzte nur noch gelegentlich.
Wiedergeburt mit 75
1986 erlebte der Lindy Hop eine Renaissance. England und Schweden, die den Jitterbug tanzten – ein früher Swingtanz – erkannten den Ursprung ihres Tanzes im Lindy Hop. Sie machten sich auf die Suche nach originalen Tänzern und wurden in New York fündig.
Von da an reiste Frankie Manning wieder in die ganze Welt. «Er war damals 75. Ich glaube, die Leute gaben ihm einen Grund, wieder zu leben. Es war eine Art Wiedergeburt», sagt Miller. Er war wieder gefragt als Choreograph, etwa in der Lindy Hop Szene aus Spike Lees Film «Malcom X». Aber vor allem versprühte er mit seinem Charisma und seinem breiten Lachen die Lust zum Tanzen. «Frankie war der Schlüssel zum Revival des Tanzes. Er war nicht nur ein fantastischer Tänzer. Er war eine wunderbare Person, freundlich, grosszügig, ein Gentleman. Alle mochten ihn. Einige liebten ihn vermutlich», sagt Lennart Westerlund. Der Mann, der Frankie Manning 1989 nach Schweden holte und Schweden zu dem machte, was es heute ist: ein Mekka des Lindy Hop.
Geburtstagsfeier wird zur Beerdigung
Noch kurz vor seinem Tod 2009 unterrichtete Manning im Stuhl sitzend. Kurz vor der ausverkauften 95. Geburtstagsfeier in New York starb er. Etwas vom Letzten, was Manning laut Westerlund sagte: «The show must go on». So verwandelte sich das Fest zu einem riesigen Memorial in einer Kirche mitten in Manhatten. 1400 Leute kamen aus der ganzen Welt.
Fünf Jahre später sind zu Ehren des Lindy Hop und Frankie Mannings noch mehr Leute nach New York gereist. Und dies ist nur die Spitze des Eisbergs – die Tickets waren in kürzester Zeit ausverkauft. Die Tanzszenen wachsen und wachsen. In einem grossen Club in Manhatten tanzen sich nun 2000 Privilegierte auf dem vollgepackten Parkett die Nächte um die Ohren. Die Stimmung ist «swinging», die Leute schwitzen, tanzen, lachen, sind nicht zu bremsen. Den grossen Hellzapoppin’ Tanzwettbewerb gewinnt ein südkoreanisches Paar.
Um Mitternacht zum 26. Mai gibt es den Countdown zu Frankie Mannings Geburtstag. 2000 Leute aus der ganzen Welt bejubeln einen Mann, dem ein grosser Wunsch erfüllt wurde. In seiner Biographie schreibt Frankie Manning: «Wenn ich an die verschiedenen Tanzfestivals reise, realisiere ich: Endlich sehe ich, was ich immer sehen wollte: Leute aus der ganzen Welt mit einem Lachen auf dem Gesicht, die zusammen kommen, um zu tanzen». Könnte er vom Himmel blicken, er sähe das Savoy. Oder das Savoy und den Tanzhimmel gleichzeitig.