Ein bisschen Lampenfieber verspüren wohl die meisten Menschen, sobald sie sich vor Publikum präsentieren. Doch erschreckend viele klassische Profimusikerinnen und -musiker leiden unter einer veritablen Auftrittsangst.
Herzrasen, Blackouts, stockender Atem
Entweder rast das Herz bereits vor dem ersten Ton oder spätestens dann, wenn eine technisch anspruchsvolle Passage näherkommt. Manche fürchten Blackouts beim Auswendigspiel.
Andere überfällt auf der Bühne urplötzlich die übersteigerte Angst, sich mit einer winzigen – und vom Publikum meist gar nicht registrierten – Unsauberkeit endgültig und bis auf die Knochen zu blamieren. Hinzu kommen instrumentenspezifische Reaktionen wie der Tremor (Bogenzittern) bei Streicherinnen oder flacher, stockender Atem bei Bläsern.
Auch Argerich und Streisand zittern
Auftrittsangst ist kein neues Phänomen: Der für seine Perfektion bekannte Pianist Claudio Arrau schämte sich für falsche Töne innerlich in Grund und Boden.
Auch Martha Argerich, eine der weltweit führenden Pianistinnen mit über 60 Jahren Bühnenerfahrung, leidet unter Bühnenangst, ebenso Koryphäen aus anderen Musikgenres wie Paul McCartney oder Barbra Streisand.
Auch andere Berufsfelder, in welchen an einem genau definierten Zeitpunkt eine Höchstleistung geliefert werden muss, sind betroffen: etwa im Schauspiel (Hugh Grant) oder Spitzensport (Per Mertesacker).
Betablocker und Benzos sollen beruhigen
Damit es nicht zu unangenehmen Situationen kommt, konsumieren gemäss Fachleuten wie dem deutschen Musik-Mediziner Helmut Möller ein Drittel der klassischen Musizierenden regelmässig Betablocker oder Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine (umgangssprachlich «Benzos» genannt). Andere trinken Alkohol oder rauchen Marihuana, um sich zu beruhigen – vor oder nach dem Auftritt.
In der Forschung gibt es bislang keine präzisen Erhebungen zur Medikamenteneinnahme, zu schambehaftet ist das Thema. Man vermutet eine hohe Dunkelziffer.
Das bestätigt die Konzertmeisterin eines amerikanischen Orchesters gegenüber SRF: Gemäss ihren Aussagen schlucken sie und die Hälfte ihres Orchesters regelmässig Betablocker.
Abhandlungen über die psychomentalen Belastungen dieses Berufs gibt es schon länger. Seit den 1990er-Jahren hat sich das Spezialfach Musik-Medizin mehr und mehr etabliert und die Musikphysiologie hat an vielen Hochschulen den Eingang in die Lehre gefunden.
Mittlerweile erahnt man das Ausmass der Problematik. Gallionsfiguren der Musik-Medizin wie Professor Helmut Möller fordern, dass gerade für die psychische Gesundheit der Musizierenden deutlich mehr getan werden muss.
Unrealistische Perfektionsansprüche
Nicht nur Symptome wie Auftrittsangst oder physische Verspannungen gehörten behandelt, so Möller. Vor allem die systemischen Ursachen solcher Ängste und Beschwerden müssten behoben werden.
«Die klassische Musikausbildung hat eine Fehlerkultur, die aufs Negative fixiert», sagt Helmut Möller. Dazu komme der konstant hohe Leistungsdruck, die unrealistischen Perfektionsansprüche, der ruppige, manchmal von Neid und Missgunst geprägte Umgang im Orchester und veraltete Kommunikationsstrukturen. Ausserdem würde der Konkurrenzdruck in diesem hochkompetitiven Berufsfeld fast schon zelebriert.
Zitterpartie Probespiel
Es sei ein offenes Geheimnis, dass praktisch alle Bewerberinnen und Bewerber vor Probespielen Beruhigungsmittel konsumieren, erzählt eine Schweizer Geigerin gegenüber SRF. Ein Hornist aus Deutschland ist sich sicher, dass mindestens die Hälfte der Musiker für dieses traditionelle Bewerbungsritual Betablocker nehmen. Trotzdem wird kaum offen darüber gesprochen.
Dabei wären modernere und weniger belastende Modelle denkbar. Die «Junge Deutsche Philharmonie» etwa lebt es seit Jahrzehnten vor: mit stärkerer Gewichtung des Ensemblespiels, in welchem auch andere zentrale Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Hilfsbereitschaft und Kommunikation zur Geltung kommen.
Ziel muss ein, dass Konzerte für alle ein Genuss sind – nicht nur fürs Publikum.