50 Jahre ist es her, seit der Berner Musiker tödlich verunfallte. Was kann heute noch über Mani Matter gesagt werden, was nicht schon tausendfach gesagt wurde? Eine Menge! Zum Beispiel, dass er ein durch und durch politischer Mensch war und das immer wieder in seinen Liedern durchschimmern liess.
Dynamit gegen die Demokratie
Etwa im Lied «Dynamit» aus dem Jahr 1968 – die Geschichte geht so: Spätnachts in Bern. Ein Mann trifft beim Nachhauseweg auf der Bundeshausterrasse einen bärtigen Anarchisten. Dieser macht sich mit einer Stange Dynamit am Bundeshaus zu schaffen und möchte es offensichtlich in die Luft jagen.
Mit einer flammenden Rede für die Demokratie und die Freiheit schafft es der Mann, den Anarchisten davon abzuhalten, worauf dieser mit seinem Dynamit wieder abzieht.
Dem pflichtbewussten Bürger kommen zu Hause jedoch Zweifel an seiner patriotischen Rede. Und er hat eine Erkenntnis: Es reichen offenbar ein paar Säcke Dynamit, um das Bundeshaus zu sprengen.
Das Bundeshaus steht im Lied für die Demokratie, die Mani Matter in steter Gefahr sieht. Die Botschaft: Wenn wir als Bürgerinnen und Bürger nicht aufpassen, löst sich unsere Demokratie – kabumm – in Luft auf.
Subtil politische Verse
Der Literaturwissenschaftler Nicolas von Passavant hat ein Buch über das Politische bei Mani Matter geschrieben. Er sagt: «Mani Matter hatte nicht das Bedürfnis, mit dem Holzhammer den Leuten irgendetwas einzuhämmern. Vielmehr wollte er mit seinen Liedern ein Modell für politische Sachverhalte entwerfen.»
Mani Matter gehe es in seinen Liedern darum, zu verstehen, wie Politik funktioniert. Politische Parolen sucht man in seinen Liedtexten hingegen vergeblich.
Vom «Boxmätch» zum Gewaltexzess
Dabei interessiert ihn in vielen seiner Chansons der Konflikt. Man denke an Lieder wie «Boxmätch» von 1970, «E Löl, e blöde Siech, e Glünggi un e Sürmel» von 1972, «I han es Zündhölzli azündt» von 1967 oder auch den «Eskimo» 1966, der vom Bären aufgefressen wird. Überall findet ein gewaltsamer Konflikt statt, der unerwartet ausbricht.
Zu einem Konflikt kommt es auch im Lied «Si hei dr Wilhälm Täll ufgfüert» von 1966. Dort singt Matter von einem Dorftheater, das die Geschichte von Wilhelm Tell auf die Bühne bringt. Zu Beginn ist das Publikum im Saal gespannt, was passiert.
Mit zunehmender Dauer des Stücks werden die Gemüter im Saal immer erhitzter – auf der Bühne und im Publikum – was am Ende in einer wüsten Massenschlägerei endet. Zwei Stunden lang dauert dieser Gewaltexzess, bis «Österreich dann geschlagen war», wie Matter trocken resümiert.
Am Ende des Liedes fragt er sich aber, ob die Freiheit der Schweiz tatsächlich durch Gewalt zu gewinnen sei. Diesen Satz wiederholt er.
Wenn die Argumente ausbleiben
Für den Literaturwissenschaftler Nicolas von Passavant steht dieses Lied sinnbildlich dafür, dass Mani Matter davon ausging, dass die Gewalt immer ein Stück weit in der Luft liege.
Es gehe Matter nicht darum, alles mit einer politischen Botschaft zu überlagern. «Aber er nutzt die Gewalt in den politischeren Liedern, um zu zeigen, wie ein Konflikt funktioniert, oder wie er eben nicht funktioniert.»
Beim Lied ‹Ir Ysebahn› sieht man gut, wie Mani Matter sich nicht auf eine Seite schlägt, sondern den Konflikt als Modell zeigt.
Mani Matter zeigt in seinen Liedern auf, was passieren kann, wenn die Dialogbereitschaft abbricht. Wenn wir nicht mehr fähig sind, einen Konflikt über Argumente auszutragen. Ein schönes Beispiel dafür ist das Lied «Ir Ysebahn», auf dem gleichnamigen Album zu finden.
Nur eine Seite im Blick
Matter singt von zwei Menschen, die sich im Zug gegenübersitzen. Die einen sitzen so, dass sie sehen, wohin der Zug fährt. Sie blicken nach vorne, in die Zukunft. Die anderen blicken zurück, in jene Richtung, von welcher der Zug kommt, also in die Vergangenheit.
Irgendwann behaupten beide Seiten, ihre Blickrichtung sei die einzig Richtige. Unwillig die Argumente des Gegenübers anzuhören, eskaliert die Situation und sie geben einander mit Schirmen aufs «Dach».
Das Lied entsteht 1968. Damals sieht Mani Matter, wie sich die Generationen bekämpfen. Die Alten haben den Zweiten Weltkrieg noch erlebt und wollen eine stabile Situation. Die Jungen sind mit dieser stabilen Situation aufgewachsen und wollen etwas Neues, wollen ausbrechen.
Von Passavant sagt: «Beim Lied ‹Ir Ysebahn› sieht man gut, wie Mani Matter sich nicht einfach auf eine Seite schlägt, sondern zuerst den Konflikt als Modell zeigt. Er zeigt, wie zwei Seiten sich nicht verstehen.»
Das Aushalten vom Andersdenken
Mani Matter bleibt in seinen Liedern weitgehend unideologisch. In seinen politischen Schriften drückt er sich hingegen deutlicher aus: Er fordert gleiche Bildungschancen für alle. Matter setzt sich für ein Diskriminierungsverbot zugunsten von Ausländern ein und er macht sich für das überfällige Frauenstimmrecht stark.
Ende der 50er-Jahre tritt Mani Matter auch dem «Jungen Bern» bei: Eine politische Gruppe, die den grossen Parteien sture Ideologie und reine Interessenvertretung vorwirft.
Matter kandidiert einmal für den Berner Stadtrat und einmal für den Grossrat, schafft es jedoch beide Male nicht. Das hält ihn nicht davon ab, das «Junge Bern» zwischen 1964 und 1967 zu präsidieren.
Das «Junge Bern» möchte eine gewisse Sachlichkeit in die polarisierte Schweizer Politlandschaft der 50er- und 60er-Jahre zurückzubringen. Für diese Bereitschaft zum Dialog und das Aushalten von entgegengesetzten Meinungen steht auch Mani Matter. Nur so könne man ein gewaltsames Auseinanderdriften der Gesellschaft verhindern.
Aktueller denn je
Wenn man heutige Demokratien ansieht, könnten seine Überlegungen aktueller kaum sein. Man denke an die Polarisierung in den USA, an die Erstürmung des Capitols vor eineinhalb Jahren – ein trauriges Beispiel für eine komplett gestörte Kommunikation zwischen zwei politischen Lagern.
Für Mani Matter entsteht der Staat aus der Gesellschaft, aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung heraus.
Vielen in Erinnerung dürften in Zukunft auch die Pandemiejahre bleiben, in denen man von einem regelrechten «Corona-Graben» sprach, der durch die Gesellschaft ging. Entweder man war Massnahmengegner oder -befürworter. Ein Dialog zwischen diesen beiden Gruppen fand praktisch nicht mehr statt.
Aktiv einsetzen für die Demokratie
Wie gelingt es also, dass Bürgerinnen und Bürger in einem pluralistischen Staat im Dialog bleiben? Dieser Frage nimmt sich Jurist Matter schon 1968 bei seinem einjährigen Aufenthalt in Cambridge an.
In seiner unvollendeten Habilitationsschrift «Die pluralistische Staatstheorie – oder der Konsens zur Uneinigkeit» versucht er aufzuzeigen, wie Demokratie gelingen kann.
Er schreibt vom «Mut zum Politisieren». Eine Demokratie bleibe nicht am Leben, wenn wir alle paar Monate einfach ein Ja oder ein Nein auf einen Stimmzettel setzen. Vielmehr müssten alle sich als aktive politische Citoyens an der Demokratie beteiligen.
Nicolas von Passavant sagt: «Mani Matter ist nicht jemand, der das Gefühl hat, man könne eine Demokratie einfach von oben regulieren, sondern für ihn entsteht der Staat aus der Gesellschaft, aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung heraus.»
Konflikt per se ist nicht schlecht – es geht jedoch darum, wie man ihn austrägt. Das schliesst starke Meinungen nicht aus. Auch Mani Matter merkt 1968 bei den Studentenunruhen in Cambridge, dass man manchmal auch ein bisschen vehementer und mutiger für seinen Standpunkt auftreten muss.
Seine Texte werden entschlossener
Das spürt man auch in den späten Liedern, die er nach seinem Cambridge-Aufenthalt schreibt. Der ironische Grundton bleibt zwar, die Entschlossenheit seiner Botschaften nimmt jedoch zu. Gute Beispiele dafür sind die Lieder «Warum syt dir so truurig» oder «Nei säget sölle mir».
In beiden Chansons wartet Mani Matter nicht, wie in vielen früheren Liedern, erst bis zum Schluss mit dem Aufzeigen eines Missstandes.
Er setzt den Missstand direkt an den Anfang: «Warum seid ihr so traurig? Es geht doch so, wie ihr es wollt.» Oder: «Nein, sagt, sollen wir von nichts mehr anderem träumen, wir, die wir in gottvergessenen Städten leben müssen?».
Leider gibt es von beiden Liedern keine Original-Aufnahmen von Mani Matter. Unter Umständen hätte dies geholfen, zu verstehen, in welcher Stimmung er die Lieder angedacht hatte.
Mani Matter heute
Mani Matter war kein politischer Liedermacher im engeren Sinn. Vielleicht schaffte er es gerade deshalb, seine subtilen politischen Botschaften allen politischen Lagern in der Deutschschweiz näherzubringen.
Wie hätte Mani Matter wohl auf die heutige Gesellschaft geschaut? Auf die momentane Weltlage? Den Ukrainekrieg? Die Klimakatastrophe? Die sozialen Medien?
In einer zunehmend globalisierten Welt werden die Herausforderungen des pluralistischen Miteinanders weiter zunehmen. Da kann es nicht falsch sein, sich von Zeit zu Zeit eines der politischeren Lieder von Mani Matter anzuhören.