Tausende von Fans jubeln Hatsune Miku zu, wenn der japanische Popstar auf der Bühne singt und tanzt. So weit, so normal. Aber: Hatsune Miku gibt es gar nicht. Zumindest ist sie kein Mensch, sondern ein Gesangs-Synthesizer. Wie kommt es, dass ein Computerprogramm zum Weltstar wurde?
Die Software, die elektronisch Gesang erzeugen kann, heisst «Vocaloid» und wird von der Firma Yamaha entwickelt. 2007 kommt Hatsune Mikus Stimme auf den Markt, zusammen mit fünf weiteren Vocaloids, die sich alle in ihrer Stimmfarbe unterscheiden.
Ursprünglich sind Hatsune Miku und ihre Vocaloid-Kameradinnen nicht viel mehr als eine Marketing-Strategie für ein Computerprogramm. Es stellt sich nämlich heraus, dass sich die Stimm-Synthesizer-Software besser verkaufen lässt, wenn man den Stimmen ein Gesicht gibt. Also gibt's zu jeder der sechs Stimmen eine animierte Figur.
Von Software zu Weltstar
Besonders eine Figur ist auf Anhieb erfolgreich: Hatsune Miku. Es ist die Geburtsstunde eines Weltstars. Davon ist wohl auch das japanische Medienunternehmen Crypton Future Media überrascht, der die sechs Vocaloids geschaffen hat und die Rechte besitzt.
Zuerst ist Hatsune Miku auf dem japanischen Videoportal «Nico Nico Douga» erfolgreich, wo Fans ihre Songs und animierten Videos posten. Es folgt ein rasanter Aufstieg: 2009 tritt sie zum ersten Mal live auf, ist anschliessend zu Gast in verschiedenen Talkshows und hat einen virtuellen Auftritt in beliebten japanischen Animes. Es folgen Konzerte in ganz Asien, Nordamerika und später Europa. 2014 tritt sie als Support auf Lady Gagas Welttournee auf.
Fans erschaffen Hatsune Mikus Persönlichkeit
Es sind die Fans, die aus der virtuellen Kreation Hatsune Miku einen Weltstar gemacht haben. In ihrer offiziellen Beschreibung stehen lediglich ihr Alter (16, schon seit 15 Jahren), Gewicht (nur 42 Kilogramm), ihre Grösse (158 cm) und ihr Musikgeschmack (Pop, Rock, Dance). Seit ihrer Entstehung spinnen Fans weltweit ihre Persönlichkeit weiter und diskutieren über ihre Musik. Daraus bauen sie eine ganze Fan-Kultur.
Der Aufstieg Hatsune Mikus fasziniert mittlerweile auch die Forschung – zum Beispiel den Medienwissenschaftler Rafal Zaborowski. «Ist Hatsune Miku frech? Ist sie verspielt, seriös? Was sind ihre Hobbys? All das wird im Internet diskutiert. Und manchmal zeigen sich regionale und nationale Unterschiede in der Interpretation ihres Charakters», sagt er.
Unter ihren Videos finden sich Kommentare, in denen Hatsune Mikus Outfits und Tanzmoves bewertet werden. Oder Fans diskutieren, ob dieses oder jenes Lied gut zu Hatsune Mikus Stil passt. Die Fans beteiligen sich laufend am Schaffungsprozess der Figur.
Wer schreibt Hatsune Miku Songs?
Auch für die Entwicklung der Musik sind die Fans zentral, denn die Vocaloid-Software ist frei auf dem Markt erhältlich. Jeder und jede kann einen Song schreiben und ins Netz stellen – auch für kommerzielle Zwecke. Mittlerweile gibt es bereits mehr als 100'000 Hatsune-Miku-Songs.
Ganz so einfach zu bedienen ist die Software aber nicht. «Man muss viel Arbeit hineinstecken, um das beste Resultat zu erhalten», erklärt die amerikanische Musikproduzentin Aki Glancy, auch bekannt unter ihrem Künstlernamen EmpathP. «Um den Vocaloid-Gesang zu ‹stimmen›, kann man die Aussprache der Wörter anpassen. Die Stimme höher oder tiefer stellen, sie reifer oder kindlicher klingen lassen und vieles mehr.»
Ein Hologramm auf Welttournee
Die beliebtesten Songs von Hatsune Miku schaffen es auf die grosse Bühne. Nämlich dann, wenn der virtuelle Star auf Tournee geht. Im Januar 2020 – kurz vor der Pandemie – war die Japanerin zuletzt in Europa unterwegs.
Während sie als knapp drei Meter grosses Hologramm auf der Bühne singt und tanzt, spielen echte Musiker live ihre Songs. Ihre Vocaloid-Kameraden treten als Supporting Acts mit einigen ihrer grössten Hits auf.
An einem Vocaloid-Konzert läuft nichts ohne das Merch, das man vor und nach der Show kaufen kann: T-Shirts, Pullis, Sticker oder Poster. Besonders wichtig sind die farbigen Leuchtstäbe, die man im Takt der Musik schwenkt und deren Farbe sich je nach Vocaloid anpassen lässt. Hatsune Mikus Farbe ist – inspiriert von ihrer Haarpracht – türkisblau. Die Interaktion mit den Fans geschieht auf allen Ebenen.
Hatsune Miku verkauft Autos und Pizza
Die Kommerzialisierung von Vocaloids beschränkt sich nicht nur auf ihre Konzerte. Hatsune Miku ist mittlerweile auf allen denkbaren Produkten zu sehen – von Kopfhörern über Lunchboxes bis hin zu Schulmaterial und Lebensmitteln.
Und als animierte Figur ist Hatsune Miku auch selbst Werbeträgerin und erscheint in zahlreichen japanischen und internationalen Werbespots. Im Jahr 2011 war sie zum Beispiel das Maskottchen einer Auto-Werbekampagne, 2018 war sie auf Pizzakartons abgebildet.
Virtuelle Musiker als Spiegel der Gesellschaft
Die Kommerzialisierung virtueller Musikerinnen und Musiker beeinflusst auch, wie diese dargestellt werden. Diesem Thema hat sich die Musikwissenschaftlerin Alicia Stark gewidmet. Sie stellt fest: Obwohl virtuelle Bands alles sein und repräsentieren könnten, entsprechen die meisten Figuren virtueller Bands trotzdem der gesellschaftlichen Norm, wenn es um den Ausdruck von Gender und Ethnizität geht.
«Figuren, die dem Mainstream entsprechen, lassen sich besser verkaufen. Die Fans wollen das konsumieren, was sie schon kennen», erklärt Alicia Stark. Virtuelle Stars sind letztlich also nicht mehr als ein Spiegel unserer Gesellschaft.
Auch virtuelle Stars werden sexualisiert
Es werden auch problematische Aspekte unserer Gesellschaft widerspiegelt. Vocaloids wie Hatsune Miku werden oft und heftig sexualisiert. Auch wenn die virtuellen Stars keinen realen Schaden davon tragen, sei das problematisch, sagt Alicia Stark: «Weil es die Sexualisierung von jungen Mädchen generell normalisiert.»
Trotzdem ist Alicia Stark zuversichtlich: «Es wird noch eine Zeit dauern, aber ich bin überzeugt, dass sich Vocaloids zusammen mit der gesellschaftlichen Norm weiterentwickeln werden.»
Die Zukunft der Vocaloids
Auch technisch werden sich Vocaloids weiterentwickeln, meint Alicia Stark: «Ein Vocaloid mit künstlicher Intelligenz, der eigenständig Musik erzeugt, ist absolut denkbar.»
Auch Medienwissenschaftler Rafal Zaborowski ist überzeugt, dass Vocaloids in Zukunft noch einiges mehr tun können: «Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis ein Hatsune-Miku-Roboter uns die Hand geben oder uns umarmen kann.» Das bedingt natürlich, dass Vocaloids bis dahin noch relevant bleiben.
Hatsune Miku denkt über ihren Tod nach
Im Jahr 2013 feierte Hatsune Miku ihr Opern-Debüt mit dem Stück «The End», welches sich mit dem Tod auseinandersetzt. Auf den ersten Blick mag die Frage nach der Sterblichkeit bei einer virtuellen Figur absurd klingen. Doch bei Hatsune Miku, die von der Interaktion und dem Musikschaffen ihrer Fans lebt, käme ein Vergessen-Werden wohl dem Tod gleich.
Tatsächlich macht sich Hatsune Miku auch selbst darüber Sorgen. In einer tränenreichen Rede an einem ihrer Konzerte dankt sie ihren Fans: «Nur weil ihr mich so viel singen gelassen habt, unterstützt habt … », fängt sie an. Und bricht dann schniefend ab und sagt: «Danke!».
Zwischen den Zeilen schwingt mit: Wenn ihr mich vergesst, gibt es mich nicht mehr.