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Französische Popmusik: Wieso das Nischendasein im deutschsprachigen Raum?
Aus Künste im Gespräch vom 08.08.2024. Bild: Reclam Verlag
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Von «Desireless» bis «Zaz» Voyage, Voyage: Eine Reise durch die französische Popmusik

Bon Voyage! Wir essen, trinken, rauchen französisch und bewundern das Savoir-vivre unserer Nachbarn. Aber die Popmusik Frankreichs kennen viele nur am Rande. Das Buch «Voyage, Voyage» könnte das ändern.

Sommer 1987, «Voyage, Voyage» von Desireless läuft im Radio – und zwar ständig. In Frankreich, aber auch andernorts. André Bosse ist 13 Jahre alt, als der Song in seinem kleinen Städtchen im Münsterland ankommt. «Ich bin dem Stück verfallen», sagt er. «Ich fand, dass diese Sängerin unglaublich cool aussah, nach Zukunft. Das war total aufregend.»

Gut 30 Jahre später schreibt Bosse, inzwischen Musikjournalist und Autor, ein Buch über die Musik, die ihn so fasziniert, die im deutschsprachigen Raum aber nach wie vor ein Nischendasein fristet.

Das liege weniger an der Sprache, so Bosse. Sondern daran, dass bei Musik aus Frankreich der Text und die Stimme im Vordergrund stünden.

Einerseits sei die Stimme lauter abgemischt, als das bei englischen Popsongs der Fall ist. «Und wenn die Französinnen so hauchen wie Jane Birkin oder die männlichen Sänger wie Serge Gainsbourg etwas zu verraucht und versoffen klingen, das mögen viele gar nicht.» Französische Popmusik lässt sich nicht einfach ignorieren, sie will gehört werden.

Amélie: Kinderreime am Klavier

Dennoch haben französische Songs es immer wieder in die deutschen Singlecharts geschafft. Der Film «Die fabelhafte Welt der Amélie» (2001) lockt Touristinnen und Touristen aus aller Welt nach Paris, mit Bildern im Kopf von den grossen Augen von Audrey Tautou und mit den Walzern von Yann Tiersen im Ohr.

Der Film «La Boum» hat 1980 den Blick auf Feten und Fummeleien für immer verändert. Mit «Reality» habe der Rumäne Vladimir Cosma einen typisch französischen Song geschrieben, so Bosse.

Diese französischen Popsongs empfiehlt André Bosse

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Françoise Hardy: Message personnel (1973)

Laut André Bosse eines der Kernstücke des French Pop, weil sich hier alles findet, was französische Musik ausmacht. Das Klavier spielt eine Melodie, die einen an einem tristen Tag noch tiefer in den Keller schickt. Hört man sie aber beim Sonnenuntergang am Strand des Atlantiks, klingt sie wie der perfektee Soundtrack zum schönsten Naturschauspiel der Welt.

Les Rita Mitsouko: «Marcia Baïla» (1984)

Es gibt keinen besseren Song zum Tanzen! Anfang der 1980er Jahre wird französischer Pop von einer neuen Generation entdeckt. Das Land wird zum beliebten Urlaubsziel, günstige Busreisen führen auf Campingplätze am Atlantik oder ans Mittelmeer. Dort gibt es tagsüber Sonnengarantie, am Abend geht’s auf die Campingplatzdisco. Die Songs, die dort gespielt werden, nehmen die jungen Deutschen mit nach Hause – es entsteht Pop à la plage, sommerlicher französischer Pop, entdeckt und gehört direkt am Strand.

Desireless: Voyage, voyage (1986)

Im Text geht es, klar, ums Reisen – aber weniger mit Koffer und im TGV, sondern um eine Traumreise, die über sündige Hauptstädte und den endlosen Ozean führt, über den Ganges und den Regenwald – bis hin zu einem Ort der Liebe, den niemand beschreiben kann. «Voyage, voyage» ist ein sehnsuchtsvolles Lied, gesungen von einer Künstlerin, die sich «sehnsuchtslos» nennt. Wer genauer hinhört, entdeckt die französische Seele des Songs. Das Herz von «Voyage, voyage» schlägt in Moll. Wie einfach sich aus dem Song eine typische French-Pop-Ballade machen lässt, zeigt die Coverversion der jungen Sängerin Chloé Stafler, die das Stück 2022 so interpretiert, dass es sich problemlos als Engtanz-Lied für eine Neuauflage von «La Boum» nutzen liesse.

Pomme: Adieu mon homme (2017)

Ihr erstes Album «À peu près» erscheint 2017 und kombiniert französische Chanson-Tradition mit Americana-Einflüssen. Dank Liedern wie dem Titelstück oder dem nach dem einsamen Westen klingenden «Adieu mon homme» liegt es auf der Hand, Pomme (*1996) als die französische Taylor Swift zu bezeichnen. Bemerkenswert ist die selbstbestimmte Offenheit in ihren Texten, die zwischen hetero- und homosexueller Perspektive wechseln.

Zaho de Sagazan: Tristesse (2023)

Die 24-Jährige zeigt, wie Musik klingt, wenn die Chanson-Tradition und grosse Melancholie von Barbara oder Jaques Brel auf elektronische Musik und Deutsche Krautrock-Elemente treffen. Dass ihr erster Radiohit «Tristesse» heisst, passt perfekt: Die Melancholie ist das zentrale Element von Zaho de Sagazans Neo-Electro-Chansons.

Dass hier ein Schotte – Richard Sanderson – auf Englisch singt, spiele keine Rolle. Denn die französische Popmusik sei von ganz unterschiedlichen Kulturen geprägt. Raï etwa ist ursprünglich traditionelle Musik aus Algerien. In den frühen 1970er-Jahren entsteht eine moderne Form des Genres, die den französischen Mainstream erobert.

Das ganze Elend der Welt in 3 Minuten

«Aïcha» (1996) vom algerischen Raï-Musiker Khaled wird so zum internationalen Hit. Der französische Popsänger Jean-Jacques Goldman hat «Aïcha» auf Anfrage Khaleds komponiert. Er wünscht sich von ihm ein Liebeslied. Woraufhin Goldman tut, was französische Liedschreiber immer tun, wenn sie über die Liebe schreiben: Er nimmt die Rolle des Leidenden ein.

So harmlos französische Popsongs auch beginnen mögen, spätestens in der letzten Strophe kippen sie ins Melodramatische, so Bosse. «Französinnen und Franzosen singen über Sex, Essen, Trinken, über die Sonne, das Meer – über die schönsten Sachen.» Aber ohne Melancholie gehe es nicht.

Ein bisschen Klischee

Auch Zaz alias Isabelle Geffroy bedient die ganze emotionale Palette: von Sehnsucht und Traurigkeit bis überbordende Lebenslust. 2010 feiert die Singer-Songwriterin mit «Je veux» ihren Durchbruch. Ein lebensfroher Song über Dinge, die sie nicht braucht; statt Geld wolle sie lieber Liebe, Freude und gute Laune. Zaz landet mit ihren Alben in der Schweiz auf Platz 10, in Deutschland sogar auf Platz 3.

Ihr Erfolg habe damit zu tun, dass sie sich geschickt als Beispiel für französische Lebensfreude vermarktet, sagt André Bosse: «Solche Menschen möchte man erleben, wenn man an der Côte d'Azur Urlaub macht. Man möchte nicht die reichen Leute und die Jachten sehen, sondern so quirlige Menschen wie Zaz. Das darf ruhig ein bisschen das Klischee bedienen.»

Buchhinweis

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André Bosse: «Voyage, Voyage: Eine Reise durch die französische Popmusik». Reclam, 2024.

Bosse führt in seinem Buch «Voyage, Voyage: Eine Reise durch die französische Popmusik» auf über 300 Seiten durch die französische Popmusik der 1960er-Jahre bis heute. Er stellt unzählige Musikerinnen und Musiker wie Jane Birkin, Serge Gainsbourg, MC Solaar oder Zaz vor; erzählt von Genres wie Chanson, Yéyé, Nouvelle Scène, Hip-Hop, Raï oder Filmmusik.

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Radio SRF 2 Kultur, Künste im Gespräch, 08.08.2024, 09:05 Uhr.

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