Zuerst bekomme ich eine VR-Brille und Kopfhörer aufgesetzt. Dann geht’s sofort los: Ein Gänsehaut-Moment jagt den nächsten in Michel van der Aas komplett virtueller und interaktiver Oper «Eight».
Ich konnte «Eight» vergangenes Jahr am Holland Festival ausprobieren. In einem Korridor begegnet mir eine ältere Dame, die mir Einblicke in ihr Leben und in ihre Psyche gewährt.
Sie fordert mich auf, im Korridor eine Wand zu berühren. Tatsächlich kann ich diese Wand auch mit meinen Fingerspitzen fühlen, und durch einen sanften Druck verändern sich gar der Klang der Musik und die Szenerie.
Bald finde ich mich in einer Höhle wieder, bald in einer Berglandschaft mit atemberaubender Aussicht, bald auf einem Plateau in den Weiten des Alls.
Zusammen mit der Musik und dem Gesang verschiedener Stimmen verbindet sich alles zu einem äusserst intensiven und hochassoziativen Musiktheater-Erlebnis. Dieses dauert zwar objektiv nur rund 15 Minuten, subjektiv fühlt es sich aber deutlich länger an.
Eine neue Gattung
Zwei Jahre dauerte die Produktion dieser Kurzoper. Der innovative niederländische Komponist van der Aa ist ein Pionier, wenn es um Musiktheater in Verbindung mit neusten Technologien geht. Für die Realisierung der weltersten virtuellen und interaktiven Oper holte er die VR-Produktionsfirma «The Virtual Dutch Man» mit ins Boot.
In deren Labor, wo sonst VR-Games entwickelt werden, liess er die technischen Elemente von «Eight» erproben. Die virtuelle Wand, die man mit eigenen Händen spürt, war das Erste, was getestet wurde.
Das gestaltete sich schwieriger als erwartet: Einerseits muss dafür im Besucherraum eine flexible Stoffmembran aufgebaut werden, andererseits muss die Berührung dieser Membran durch den Besucher perfekt koordiniert sein mit den virtuellen Abläufen in der VR-Brille, damit die Illusion funktioniert.
Balance der Reize
Ursprünglich hatte van der Aa für «Eight» komplexe Musik komponiert. Da die visuellen Reize in VR und die gedanklichen Prozesse innerhalb der Oper aber schon so vereinnahmend sind, musste er die Komplexität der Musik etwas reduzieren, um alles in Balance zu halten und das Publikum nicht zu überfordern.
«Eight» klingt nun deutlich poppiger als andere Werke von van der Aa – wie eine Mischung aus Indie-Pop und Ambient.
Oper aus dem App-Store
VR würde den Künsten im Allgemeinen und der Oper im Speziellen schier unbegrenzte Möglichkeiten bieten, sagt der Komponist. Nicht nur was die Ausprägung der Kunstwerke anbelangt, sondern auch hinsichtlich der Zugänglichkeit: Menschen mit Behinderungen oder solche, die fernab der kulturellen Zentren leben, könnten so bequem und von zu Hause aus Kunst geniessen.
Ich denke VR ist nicht die Zukunft der Oper, aber eine Zukunft der Oper.
Und auch für ein junges Publikum wäre es ein niederschwelligerer Zugang: Per Download aus einem App-Store, ebenso leicht wie zu einem Game.
Die virtuelle Opern-Zukunft kommt näher
Van der Aa schwebt bereits eine App-Version von «Eight» vor, und er arbeitet schon an seiner nächsten Oper in VR oder AR (Augmented Reality, also erweiterte Realität).
Sie soll deutlich umfangreicher und interaktiver werden: Mehrere Personen sollen sie gleichzeitig erleben können, und die Story soll durchlässiger werden.
Das Publikum soll den Verlauf der Geschichte und den Wechsel in Seitenstränge der Handlung selbst mitbestimmen und so bis zu drei Stunden in dieser Opernwelt verbringen können.