Ich hatte mich mehrfach abgesichert vor meiner Erstbegegnung mit Wagner. Hatte zuhause die «Walküre» gehört, Partituren gelesen, das Textbuch, Opernführer. Ich ahnte schon: Mich erwartet Ungeheuerliches – tiefste Mythen, höchste Ansprüche, eine tonnenschwere Rezeptionsgeschichte. Ich hatte Bammel. Schliesslich sollte ich über diese «Walküre» auch noch eine Zeitungskritik schreiben, eine kundige Meinung eines Aussenstehenden, eines Nicht-Wagnerianers, war gefragt. Einem Paria ähnlich, aber in Anzug und Krawatte, betrat ich das Zürcher Opernhaus.
Falsche Wagner-Vorurteile
Es gibt leichtere Einstiege in Wagners Welt, als mit dem zweiten Teil der «Ring»-Tetralogie. Und doch machte ich mir, machen wir uns, mit Vorurteilen das Leben schwer, auch das Leben mit Wagner. Seine Musik sei laut und lang. Stimmt nicht. Das Laute ist bei Wagner portioniert. Neben dem berühmten Walkürenritt stehen in demselben Stück zahllose lyrische Stellen, intime Dialoge.
Auch die Länge – ein Vorurteil. Vier Stunden, ja, das ist lang. Auf vier Stunden kommt aber auch locker manche Barockoper. Und ob einem diese Stunden lang vorkommen – egal ob bei Vivaldi oder Wagner – hängt einzig mit der Qualität der Aufführung zusammen. Im besten Falle schaut man nach einer Viertelstunde auf die Uhr und schon ist Pause.
Darf man Kunstwerk und Schöpfer trennen?
Zweite Hürde: Wagner, der Antisemit. Ja, Richard Wagner hat 1850 eine der schlimmsten antisemitischen Schriften verfasst. Viele sehen in ihm gar einen Vorläufer der Nazi-Ideologie. Wagner-Fan Adolf Hitler jedenfalls zeigte sich oft und gerne in Bayreuth. Es ist daher jedem unbenommen, Wagner abzulehnen – auch Wagners Musik.
In Israel, wo der Fall Wagner ein wesentlich heisser verhandelt wird als hierzulande, ist es bis heute nicht möglich, Wagner im öffentlichen Konzert, am Radio, geschweige denn auf der Opernbühne zu spielen – obwohl aus Wagners Musikdramen keine direkt antisemitischen Töne sprechen, auch wenn das immer wieder nachzuweisen versucht wird. Hier stellt sich die Frage: Muss das Kunstwerk auf ewig an seinen Schöpfer gekettet bleiben? Oder vermag Wagners Kunst nicht Wahrheiten auszusprechen, die zu ignorieren ein doch Verlust wäre?
Die Oper der Erlösung
Die Antwort darauf kann sich aus der Beschäftigung mit seinen Bühnenwerken ergeben, indem man sich einem «fliegenden Holländer» aussetzt, einem «Tannhäuser» oder «Tristan und Isolde», den Zugänglichsten in Wagners Oeuvre. Die so unterschiedlichen Werke haben eines gemeinsam: Sie handeln von der Erlösung, sei es durch den Opfertod einer Liebenden (Holländer und Tannhäuser), oder durch den gemeinsamen Liebestod (Tristan und Isolde).
Wo andere Komponisten ihr Publikum mit einem hohen C zufriedenstellen können, geht‘s bei Wagner ums Höchste: Die Erlösung ist Wagners Kerngeschäft bis zuletzt, bis zum «Parsifal». Das sah auch Nietzsche: «Wagner hat über nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht. Seine Oper ist die Oper der Erlösung.»
Was bleibt nach dem Opernbesuch?
Handeln die Titelgestalten von «Holländer» und «Tannhäuser» noch in eigenem Interesse und suchen die Erlösung für sich selbst, so wird der Siegfried in Richard Wagners Opus Magnum «Der Ring des Nibelungen» diesen Egoismus überwinden. Er ist einer sein, der sich, wie Martin Geck in seiner Wagner-Biographie schreibt, «in seiner ganzen Lebens- und Liebesfülle verströmt und auch den Tod nicht fürchten muss, da er der Welt zuvor alles gegeben hat».
Aber welchen Einfluss hat ein Opernbesuch auf unser Leben? Was nehmen wir mit, wenn Siegfried sich für uns «verströmt» hat? Vielleicht nichts weiter als ein paar schöne Töne, die herrliche Schlussmusik, wenn Brünnhilde mit ihrem Pferd in den Scheiterhaufen springt und so Siegfrieds Totenfeuer zum Weltenbrand ausweitet.
Leitmotive aus der Zukunft
Unser Lebenskonzept aber ist darauf angelegt, jenseits momentaner Befriedigung eine längerfristige Perspektive einzunehmen. Und da sind wir bei Wagner richtig. Denn er spielt dem Hörer voraus- und rückblickend Ahnungen und Erinnerungen zu – in der Gestalt von Leitmotiven. Es sind sozusagen musikalische Gestalten, geknüpft an bestimmte Figuren und Motive, die an vergangene Szenen erinnern, an im Hintergrund wirkende Gestalten oder an kommende Ereignisse. Und mit dieser Technik gelingt es Wagner, Vergangenes und Zukünftiges mit der Gegenwart zu verknüpfen.