Karina Canellakis, Sie wurden schriftlich angefragt, ob Sie anstelle von Nikolaus Harnoncourt zwei Konzerte in Graz dirigieren möchten. Wie ging es weiter?
Karina Canellakis: Zuerst dachte ich: Das ist ein Witz! Ich war gerade in Houston, wo ich mein Debut als Dirigentin beim Houston Symphony Orchestera gab. Da kam der Brief von Mathis Huber, dem Intendanten der Styriarte Graz. Ich liess alles stehen und liegen, buchte die Flüge, druckte die Partituren aus, anderntags sass ich im Flugzeug nach Graz. Dort wurde ich zu Nikolaus Harnoncourt gebracht, in sein Haus, wo wir uns über Dvořáks achte Sinfonie und «Das goldene Spinnrad» unterhielten. Es war wie im Traum.
Dass ich einmal in meinem Leben ein Konzert anstelle von Harnoncourt dirigieren würde, hätte ich nie gedacht. Ich kenne Harnoncourt als Dirigenten. Als Geigerin in der Akademie der Berliner Philharmoniker spielte ich unter ihm. Schuberts Messe in As-Dur: Das hat mir für mein weiteres Musikerinnenleben viel Inspiration gegeben.
Was sprach aus Ihrer Sicht für eine Zusage, und was dagegen?
Musikalisch fühlte ich mich sicher: Dvořák gehört zu meinen Lieblingskomponisten und die Wahl des Programms kam mir entgegen. Da hatte ich überhaupt keine Bedenken. Was die ganze Situation betraf schon eher: Einspringen für eine Koryphäe wie Nikolaus Harnoncourt! Das war unbequem. Auch was das Chamber Orchestra of Europe betraf: Die spielen ja sonst nicht mit jungen Dirigenten.
Zurzeit sind Sie als Dirigentin unterwegs in den USA. Das Chamber Orchestra of Europe ist ein typisches europäisches Orchester. Was sind die Unterschiede?
Die US-amerikanischen Orchester sind sehr professionell: Bereits in der ersten Probe, wenn man das Werk einmal durchspielt, ist fast alles schon perfekt. Wichtig ist auch, dass man als Dirigentin sehr korrekt ist, zum Beispiel nicht zu viel spricht.
Mit dem Chamber Orchestra of Europe fühlte ich mich von Anfang an frei. Ich hatte das Gefühl, dass wir zusammen Kammermusik machen. In Graz hatten wir viel mehr Probezeit, was wunderbar war. Ich war erstaunt und verblüfft, mit wie viel Fantasie das Orchester spielt. Jeder Musiker, jede Musikerin zeigt Initiative und Engagement – es kam mir vor wie ein grosses Streichquartett. Für mich ist es grossartig, dass ich nun beide Arbeitsweisen kenne.
Eine Fotostrecke Ihres Dirigats in Graz zeigt: Sie haben eine sehr ausdrucksstarke Körpersprache. Man hat den Eindruck, die Musik zu hören, wie sie mal tanzt, stampft, strahlt, schwebt oder schwelgt.
Mir wird oft gesagt, dass ich mich nicht wie eine typische Dirigentin bewege – und das stimmt: Meine Technik ist anders. Aber wie genau, das kann ich auch nicht sagen. Ich denke nur an die Musik, an den Ausdruck im Augenblick und wie ich das dem Orchester vermitteln kann. An meine Körpersprache denke ich nicht. Ich hab jedoch oft darüber nachgedacht, wie sich ein Dirigent ausdrücken kann ohne viel zu reden, und wie ich die Musiker im Konzert dazu einladen kann, möglichst spontan zu reagieren. Wenn das gelingt, ist das ein «magic moment».
Sie würden es also wieder tun – ins Flugzeug springen, auf dem Flug über den Atlantik ein neues Stück einstudieren, vor ein Orchester treten, das Sie nicht kennen?
Unbedingt! Nicht nur ich hab dieses «goldene Spinnrad» nicht gekannt, auch für das Orchester war es eine Premiere.
Unter den vielen grossen Dirigentennamen kann man diejenigen der Frauen an einer Hand abzählen: Simone Young, Anu Tali, Karen Kamensek, Susanne Mälkki, Marin Alsop. Inwiefern half es Ihnen, dass Marin Alsop Ihre Mentorin war?
Letzten November gaben Marin Alsop und ich ein Konzert mit ihrem Orchester, dem Colorado Symphony Orchestra. Ich dirigierte im ersten Teil Mozart, sie im zweiten Teil Mahler. Es war grossartig! Marins Anfänge als Dirigentin waren schwer, umso mehr schätze ich, wie viel sie heute für junge Kolleginnen tut. Ich selbst gehöre bereits zur Generation, in der es die Frauen nicht schwerer als die Männer haben. Bei mir jedenfalls ist es so – das verdanke ich Marin Alsop.
Jüngst erschien eine Studie, die das Phänomen Dirigentin untersuchte. Nebst Talent und Fleiss sei auch das Networking wichtig. Wie wichtig ist das für Sie?
Für mich bedeutet das vor allem, dass ich Proben und Konzerte von Kollegen besuche. Es geht gar nicht darum, dass ich mit ihnen rede, sondern dass ich dasitze, beobachte und zuhöre. Ich sitze hinter dem Orchester, habe meine Partitur bei mir und beobachte. Das ist für mich Networking: Just show up!
PR in eigener Sache gehört auch zu den wichtigen Arbeiten.
Stimmt, das ist wichtig für eine Dirigentenkarriere. Aber ich sehe es so: Das Feld der Musiker und Musikerinnen ist sehr klein, alle kennen alle. Und wenn ein Dirigent ein schönes Konzert mit inspirierenden Proben macht, macht das schnell die Runde. Wir hatten eine gute Zeit in Graz, ich weiss, dass das die Leute in Berlin bereits wissen. Von dort geht die Kunde blitzartig nach New York.
Wie haben Sie es mit den Führungsqualitäten? Waren Sie schon als Kind ein Alphatier?
Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich schon immer eine gewisse Leitungsfunktion beanspruchte. In der Schule war ich stets die Wortführerin.
Dann braucht es aber auch noch ein Quentchen Glück.
Unbedingt! Mein Konzert in Graz war Glück pur. Ich hatte überhaupt viel Glück in meinem Leben und in meiner Karriere. Etwa dass ich am Curtis Institute studieren konnte. Oder dass ich Simon Rattle, den Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, traf. Aber man muss auch vorbereitet sein auf das Glück. Nur dann kann man von dieser Situation profitieren.
Wie geht es weiter?
Beitrag zum Thema
Als Dirigentin geht es kreuz und quer durch die USA: Chicago, Los Angeles, New York. Zur Zeit studiere ich die Rheinische Sinfonie von Robert Schumann. Den Rhein hab ich gesehen und den Schumann-Klang habe ich seinerzeit als Geigerin bei David Zinman und Simon Rattle kennengelernt.