Das Wichtigste in Kürze
- «Snow White» legt den Grundstein für das neue Genre des Zeichentrickmusicals.
- Die Songs bieten bei Disney Einblicke in die Seele der Figuren und zeigen, was sie nicht sagen würden.
- «Die Songs müssen fertig produziert sein, bevor die Zeichnerinnen und Zeichner ans Werk gehen», sagt Liedtexter Stephen Schwartz.
Wenn im Disney-Film «Snow White» von 1937 die Zwerge in der Diamantenmine arbeiten, dann sehen wir nicht nur ihr geschäftiges Treiben, sondern wir hören es auch: das Klappern der Spitzhacken, das Funkeln der Edelsteine, das Marschieren nach Hause zu Feierabend. Aus den Geräuschen entsteht ein Rhythmus, der wiederum den Takt angibt für den berühmten Song «Heigh Ho».
Musik formt Charaktere
Das ist nur ein Beispiel dafür, wie virtuos Walt Disney in seinen Filmen mit Musik umgeht. «Die Musik und der Klang verschmelzen mit dem Bild und erschaffen in diesen Filmen eine Dreidimensionalität der Figuren.
So trägt sie dazu bei, dass wir die Phantasiewelt als Welt akzeptieren» sagt Britta Heiligenthal, Musical-Regisseurin am Hamburger Operettentheater und Autorin eines aktuellen Buches über Disney-Filmmusik.
«Snow White» legt den Grundstein
«Snow White» ist nicht nur der erste abendfüllende Disney-Zeichentrick-Tonfilm. Er legt auch den Grundstein für das neue Genre des Zeichentrickmusicals. In den 30er-Jahren boomt in New York am Broadway das Musical.
Mit der Erfindung des Tonfilms konnte sich Hollywood das Erfolgsrezept der neuen Unterhaltungsform einverleiben: Songs mit Hitqualitäten, gesungen von empfindsamen Protagonistinnen und Protagonisten.
Dabei sind die Songs integraler Bestandteil der Handlung und haben alle Qualitäten berühmter Musical-Hits: «Die Figuren werden nicht nur durch Songs charakterisiert, sie singen auch genauso selbstverständlich wie sie sprechen und drücken über Musik ihre Gefühle aus.»
Einblicke in die Seele der Figuren
In den Neunzigern, mit dem Broadway-Komponisten Alan Menken und seinem Team, rücken die Disney-Filme noch näher ans Musical, sagt Britta Heiligenthal:
«Die Songs von Menken sind komplexe Kompositionen und die Figuren geben darin nun Dinge Preis, über die sie nicht sprechen würden – auch das ist typisch für das Musical.»
Ein Beispiel ist der böse Richter Claude Frollo in «The Hunchback of Notre Dame». Im Lied «Hellfire» prallt seine Obsession für die Roma-Frau Esmeralda auf seinen Antiziganismus.
Die Ausnahme: Ein Song für einen Bösen
«An diesem Lied haben Alan Menken und ich sehr lange gearbeitet» erzählt der New Yorker Komponist und Texter Stephen Schwartz, der den Text des Liedes geschrieben hat:
«Wir greifen darin zum Beispiel auf die Te-Deum Arie aus Puccinis Oper »Tosca« zurück und haben in Sound und Text den Ort aufgegriffen, an dem Frollo singt: die Kirche.»
Normalerweise haben die Bösen in Disney-Filmen keine Lieder, «Hellfire» tanzt da aus der Reihe. Stephen Schwartz erinnert sich an den Produktionsprozess: «Noch bevor es überhaupt ein Storyboard gab, haben wir entschieden, dass in dieser Szene ein Song her muss. Die innere Zerrissenheit Frollos vermag nämlich nur Musik auszudrücken.»
Erst der Song, dann die Zeichnung
Ähnlich wie bei der Produktion von Musicals, sind auch bei Disney-Filmen die Komponistinnen und Texter immer von Anfang an mit dabei. Das zeigt den hohen Stellenwert der Musik, aber auch eine Notwendigkeit im Animationsfilm, erzählt Stephen Schwartz: «Die Songs müssen fertig produziert sein, bevor die Zeichnerinnen und Zeichner ans Werk gehen, denn die Lippenbewegungen und die Gestik der Figuren müssen ja mit dem Gesang genau synchronisiert werden.»
In Disney-Filmen ist die Musik also alles andere als nur ein Anhängsel. Ihr kommt sogar so viel Bedeutung zu, dass sie das Konzept eines ganzen Films umstürzen kann: Im Disney-Film «Frozen» von 2013 war die Eiskönigin eigentlich als Schurkin angelegt, nah am Märchen-Original.
Der Song schrieb die Story von «Frozen» um
Die Songwriter Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez, auch sie wieder Broadway- erfahren, bekamen den Auftrag für einen Fiesling-Song. Beim Komponieren aber haben sie eine derart grosse Sympathie für die Figur der Eiskönigin entwickelt, dass eine Popballade entstand, die die Figur als Heldin begreift.
Als die Disney-Drehbuchautoren dann die Demoversion gehört haben war ihnen klar: der Film kann nur mit einer positiven Heldin funktionieren. Also haben sie die Geschichte nochmal umgeschrieben.
Eine gute Entscheidung: der Film wurde zum erfolgreichsten Animationsfilm aller Zeiten und der Song war wochenlang in den US-Charts, er bekam also ein eigenes Leben – wie so viele andere Disney-Songs. Es lohnt sich also, hin und wieder auf die Kraft der Musik zu vertrauen.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kontext, 15.12.2016, 9:06 Uhr.