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Eine Hand drückt auf dem Screen eines Tablets herum.
Legende: Schöne neue Klangwelt: Jeder Fünfte kann ein Orchester nicht mehr vom Computer nicht mehr unterscheiden. Imago/epd

Zukunftsmusik Sitzt bald ein Computer im Orchestergraben?

Für Film und Pop werden heute die meisten Sounds am Computer kreiert. Nun haben Forscher untersucht, ob das menschliche Ohr überhaupt reale von virtuellen Orchesterklängen unterscheiden kann. Kann also bald die teure Oper auf Computersounds setzen?

Das Orchester im Orchestergraben gehört zur Oper wie die Sängerin auf der Bühne. Der Klang eines realen Orchesters ist durch keinen Computersound zu ersetzen. So lautete zumindest bisher die gängige Annahme.

Computer kennen keine Dienstzeiten

Doch: Wie alles in der Computerbranche entwickelt sich auch die Qualität der virtuellen Orchesterklänge rasant. Mittlerweile sind die Computersounds so gut, dass im Pop- und Filmbereich nahezu ausschliesslich damit gearbeitet wird.

Der Vorteil liegt auf der Hand: Der Computer kennt keine Dienstzeiten und kostet weniger als ein hundertköpfiges Orchester.

Wandel im Klassik-Bereich?

Wenn die Computersounds – scheinbar vom Publikum unbemerkt – bereits sämtliche Filmmusiken übernommen haben, dann liegt die Frage nahe, ob solch ein Wandel auch im Klassik-Bereich bevorsteht.

Diese Frage hat Reinhard Kopiez untersucht. Er ist Professor für Musikpsychologie an der Hochschule für Musik in Hannover. Er wollte wissen, wie gut das menschliche Ohr die realen Klänge von den virtuellen Klängen unterscheiden kann.

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Strawinsky im Blindtest

Um das zu überprüfen, hat Kopiez 600 Probanden verschiedene Ausschnitte von Igor Strawinskys «Le sacre du printemps» vorgespielt: In einer Version mit den Berliner Philharmonikern, und in einer simulierten Version aus dem Computer, zusammengesetzt aus den Orchesterklängen der Vienna Symphonic Library.

Im Blindtest haben die Probanden angeben müssen, ob die Klänge von einem realen oder von einem virtuellen Orchester stammen.

Gute Ohren

Die Probanden waren breit gestreut: Sowohl Musiklaien, die noch nie ein Instrument gespielt haben, als auch Musikprofis, die auch mit den Aufnahmetechniken vertraut sind, haben an der Online-Studie teilgenommen.

Das Ergebnis: Von all diesen Probranden haben 80 Prozent die Klangbeispiele richtig zugeordnet. Das heisst aber auch, dass 20 Prozent der Probanden keinen Unterschied zwischen einem realen und einem virtuellen Orchester hören.

Kreischende Piccoloflöten

Reinhard Kopiez erklärt das deutliche Ergebnis damit, dass in der rein instrumentalen Klassik auch andere Aspekte eine Rolle spielen – und diese bei der Unterscheidbarkeit helfen.

«Der Unterschied ist: Sample-Library-Klänge sind brav, Orchesterklänge sind lebendig. Zu einem lebendigen Klang gehört auch etwas Schärfe, für ‹Le sacre› zum Beispiel etwas Aggressives im Klang der Hörner. Oder die Piccoloföten, die müssen auch kreischen können.»

Das Toben loben

Genau das machen die Berliner Philharmoniker, wenn sie Strawinskys «Le sacre du printemps» spielen. «Vielleicht gehört sogar etwas Unschönes im Klang dazu, das macht den Klang erst interessant», sagt Reinhard Kopiez. «Die Sample-Library-Version klingt etwas brav und zahnlos, das Orchester der Sample-Library tobt nicht wirklich.»

Müssen wir uns also keine Sorgen machen, dass die Computer bald die Orchester aus den Orchestergräben der Opernhäuser vertreiben? Doch, meint Reinhard Kopiez. Denn die Klänge der Sample-Libraries werden immer besser.

Orchester für zuhause

Einzelne Firmen betreiben mit viel Aufwand erdbebensichere Studios, in denen in jahrelanger Kleinstarbeit jeder einzelne Ton von realen Musikern eingespielt wird: in jeder möglichen Lautstärke und Artikulationsmöglichkeit von jedem einzelnen Orchesterinstrument.

Ist die Sample Library aber einmal erstellt, kann sie ungezählt oft wiederverkauft werden. Ein Einsteigermodell der Vienna Symphonic Library ist etwa schon für 300 Franken zu haben. So kann jeder am Computer seine eigene Interpretation von Igor Strawinskys «Le sacre du printemps» am Computer zusammensetzen.

Und wer weiss: Vielleicht entwickeln die Firmen bald auch virtuelle Klangfarben mit Charakter, die auch das Hässliche in den Computersound integrieren. Und ihn so noch realer wirken lassen.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Musikmagazin, 26.11.2016, 09:38 Uhr

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 100 Sekunden Wissen, 11.11.2016, 06:20 Uhr

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