«Ich war überfordert», erzählt Anna Schultsz von ihrem ersten halben Jahr an der Sekundarschule. Anna möchte Musikerin werden, Solistin oder Konzertmeisterin in einem Orchester.
Seit sie zwei Jahre alt ist, spielt sie Geige, mit vier beginnt der Unterricht an der Musikschule. Ihre Eltern sind beide Berufsmusiker und können das junge Talent optimal fördern.
Schlechte Karten bei Absenzen
Womit die Familie nicht gerechnet hat: Das staatliche Schulsystem der Schweiz baut auf einer strengen Präsenzpflicht auf.
Wer schon in jungen Jahren auf seinem Instrument ein so hohes Niveau erreicht hat, dass er oder sie regelmässig für Konzerte oder für Meisterkurse bei berühmten Lehrern unterwegs ist, der hat in der Schule schlechte Karten.
Vollzeitjob Gymnasium
Wer fehlt, muss den versäumten Schulstoff selbstständig nachholen und die Prüfungstermine einhalten. Daraus erfolgt zwangsläufig eine hohe Doppelbelastung.
Ein Schulpensum, das ab der Sekundarstufe etwa einem 80%-Job entspricht – ab dem Gymnasium sogar 100% -, dazu drei Stunden üben täglich, der regelmässige Instrumentalunterricht und die Konzertreisen – das würde kein Erwachsener auf Dauer schaffen.
Auch Anna hat es nicht geschafft. Sie besuchte an der Sekundarschule eine sogenannte Sport-Musik-Klasse, in der im Stundenplan Freistunden fürs Training und fürs Üben vorgesehen waren. Trotzdem gab es nicht genügend Flexibilität.
Ausweg Privatschule – wer es sich leisten kann
Die Lehrpersonen konnten nicht auf jeden einzelnen Schüler warten, bis er oder sie für die Tests bereit waren – Anna musste den Schulstoff so parat haben, wie wenn sie permanent in der Schule anwesend gewesen wäre. Dass sie während ihrer schulischen Fehlzeiten nicht einfach frei hatte, sondern mit viel Energie für die Musik, für ihren späteren Beruf arbeitete, war für die Schule irrelevant.
Dieser Stress wurde schon innerhalb von wenigen Monaten zu viel für Anna: Sie wechselt an eine Privatschule. Dort kann sie ihre Lernzeit individuell planen und auch die Schulprüfungen in Ruhe nachholen, wenn sie von einer Konzertreise zurückgekehrt ist.
Diese Schule kostet je nach Stufe bis zu 28’000 Franken pro Jahr – eine grosse finanzielle Belastung, auch für Annas Familie. Das ist nicht für jedes Musiktalent machbar.
Frühes Musizieren für die Synapsen
Doch warum müssen Musiktalente schon so früh beginnen, ein Instrument zu lernen? Graziella Contratto, Dirigentin und Leiterin des Fachbereichs Musik an der Hochschule der Künste in Bern, erklärt: «Muskulär betrachtet ist es gut, wenn sich ein Körper möglichst früh an die Bewegungsabläufe eines Instruments gewöhnt. Neuropsychologische Forschungen haben gezeigt, wie schnell sich im Gehirn eines Kindes, das Geige lernt, Synapsen bilden.»
Neuropsychologische Forschungen haben gezeigt, wie schnell sich im Gehirn eines Kindes, das Geige lernt, Synapsen bilden.
Das heisst, beim Erlernen eines Instruments geschieht im Gehirn eine einzigartige Vernetzung des Bewegungsapparats in sensorischer, motorischer und emotionaler Hinsicht – und das ist in frühen Jahren besonders effektiv, da Kinder besonders aufnahmefähig sind.
Entspannte Konzertauftritte
Auch frühe Konzertauftritte sind wichtig. «Als kleines Kind bin ich einfach auf die Bühne gegangen und habe mir nichts dabei gedacht», erzählt Anna Schultsz. «Wenn man älter wird, beginnt man zu reflektieren, und auch ich werde ab und zu nervös. Aber ich kann immer auf meine Erfahrungen zurückgreifen, dass ich es schon so oft geschafft habe – denn eigentlich mache ich das schon immer.»
Der Aargauer Pianist Oliver Schnyder, der seit vielen Jahren fest im Berufsleben steht, bestätigt: «Bühnenerfahrung holt man nur auf der Bühne.» Er selbst begann ebenfalls schon im Schulalter, Konzerte zu geben. Die Kontakte, die er dort knüpfte, halfen ihm auch nach dem Musikstudium, um richtig ins Berufsleben einzusteigen.
Musizieren mit Matura
Doch gleichzeitig kann man fragen: Wenn die frühe Musikausbildung so wichtig ist, weshalb braucht es dann gleichzeitig die Matur?
Noch vor 50 Jahren konnten talentierte Musikerinnen und Musiker ohne Matura ein Musikstudium beginnen. Damals genügte ein hohes Können auf dem Instrument. Wer dann als Solist erfolgreich wurde oder eine Anstellung in einem guten Orchester fand, der brauchte sein Wissen aus der Schule nicht.
Heute sind die Anforderungen höher. Berufsmusikerinnen und -musiker müssen breit aufgestellt sein, um im internationalen Markt zu bestehen. Lebenslange Anstellungen werden seltener; viele müssen sich als Freiberufliche selbst vermarkten, Kooperationen mit anderen Künstlern eingehen, ihre Musik dem Publikum auch mit Worten vermitteln können.
Auf diese vielseitigen Anforderungen bereitet sie das Musikstudium heute vor – und baut dabei auf das Wissen aus der Schulzeit auf.
Mehr Zeit für die Musik
Ideal ist also, wenn man beides kombinieren kann – hochstehende Musikausbildung und die Matura. Dafür gibt es in der Schweiz einige Orte, zum Beispiel das Gymnasium Hofwil im Kanton Bern. Hier dauert die Gymnasialstufe für die Jugendlichen in der Talentförderklasse fünf statt nur vier Jahre. Der Schulstress wird also entzerrt.
Auch die Prüfungsphasen können bei Konzertengagements individuell verschoben werden. In der Schule gibt es Übungszimmer und ein Internat für Auswärtige. Zudem studieren die Jugendlichen parallel zur Schule bereits an der Hochschule der Künste Bern und können so nach der Matura schon bald den Bachelor abschliessen – was im internationalen Markt einen grossen Vorteil bringt, da die Schulzeit in der Schweiz vergleichsweise lang ist. Die Berufseinsteiger sind also älter als ihre internationale Konkurrenz.
Networking und Freiheiten
Die jungen Musiktalente können hier schon wertvolle Kontakte knüpfen: «Wenn die Kammermusikpartner aus der Jugend Karriere machen, kann man mitziehen», sagt der Pianist Oliver Schnyder.
Für die Entwicklung der Jugendlichen ist es sehr wertvoll, wenn sie nicht die Exoten in einer Klasse sind, die als einzige ein Instrument spielen.
Und Eva-Maria Neidhart, Leiterin Talentförderung Musik in Hofwil, sagt: «Für die Entwicklung der Jugendlichen ist es sehr wertvoll, wenn sie nicht die Exoten in einer Klasse sind, die als einzige ein Instrument spielen. Sondern, wenn sie wie in Hofwil Peers um sich haben, die auch mit einem Geigenkasten herumlaufen, die auch zuerst üben müssen, bevor sie in den Ausgang gehen.»
Unsere Botschaft braucht auch Energie
Auch Anna Schultsz ist die Freizeit wichtig: «Freunde treffen war und ist mir sehr wichtig, und ich gehe zum Beispiel auch sehr gerne schwimmen – dabei kann ich richtig abschalten.»
All das dient der mentalen Gesundheit – sie ist die Grundvoraussetzung für gutes Musizieren. «Wir Musiker haben ja eine Botschaft, die wir dem Publikum mitteilen wollen – und das braucht Energie.»
Anna Schultsz hat ihren Frieden mit der Schulsituation geschlossen – auch wenn sie es schade findet, dass ihre harte Arbeit für ihren späteren Beruf in der staatlichen Schule nicht als solche anerkannt wird. Dafür nutzt sie nun die für den Schulabschluss nötige Matura-Arbeit, um ihre Debut-CD selbst herauszubringen. Hier befruchten sich Musik-Karriere und Schulausbildung gegenseitig – und so sollte es eigentlich immer sein.
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