Das kurioseste Kinderzimmer, das ich je betreten habe, war eine bessere Besenkammer in Berlin. Fenster: Fehlanzeige. Der Raum so schlank wie ein Schrank, der gerade Platz für ein Bett bot. Puppen, Pixi-Bücher und anderer kindertypischer Krempel? Nichts da. Erster Eindruck: In dieser Klause wäre ein Mönch zum Klaustrophobiker mutiert.
Es brauchte damals – man schrieb die frühen Zehnerjahre – das klärende Gespräch mit den in Erziehungswissenschaft und Erkenntnislehre, Pädagogik und Popkultur geschulten Eltern, bis mir einleuchten sollte: Was anmutete wie ein Verbrechen, stand vermutlich für Fortschritt.
«Das Kind braucht gar kein eigenes Zimmer», beschied man mir noch in jener Besenkammer. «Es soll bei uns sein, wenn es zuhause ist.» Dass das Kind fünf Tage die Woche in einer Kita im Kiez einquartiert war – ganz anderes Thema.
Neulich im Glashaus
Meist verhält es sich genau nicht so wie in dieser Berliner Bohème-Bude, in der die hohen Decken besonders tiefe Gedanken hervorbringen. Wir wünschen uns unsere Kinder selten zum Teufel, aber aus der guten Stube. Wie oft habe ich mich meinen Jungs die Frage stellen hören, die nur als Räumungsbefehl zu verstehen war: «Ihr habt doch ein eigenes Zimmer?»
Es brauchte viel Überredungskunst, bis die zwei ihre zauberhafte Zeltstadt abbrachen, sich mit ihren selbst geschnitzten Knarren aus dem Staub machten, und es dauerte in aller Regel keine drei Minuten, bis sie mit einem Stapel Comics bewaffnet das Sofa zurückeroberten. Sie kamen wieder – und sie blieben.
Eigentlich zu Recht: Warum sollen wir Grossen unsere Ruhe haben, wenn wir solche Texte schreiben oder unsere Telefone traktieren – statt den lesewütigen Lausebengeln dabei zu helfen, Tipis zu bauen oder endlich einen Tippfehler bei «Tim und Struppi» zu finden?
Rotz auf der Rutsche
Nicht besser ist, was sich in der freien Wildbahn beobachten lässt. Zum Beispiel im Zug, wo schon das Gepäckfach für ein Kleinkind das Kletterparadies bedeutete. Was tun wir, damit Rentner mit Vornamen Miesepeter sich nicht über quengelnde Kinder den Mund zerreissen – ohne zu kapieren, dass niemand lauter ist als die Eltern, die sie zum Schweigen bringen müssen?
Richtig, aber falsch: Wir verstauen den Nachwuchs vorsorglich im Spielwagen, wo das Boot toll, aber leider voll ist und die Rutschbahn voller Rotz. Hauptsache, die Kinder verkrümeln sich bis zur nächsten Station mit Essensresten der anderen, werfen keine vollen Windeln über Bord und die Steckdose ist nicht belegt. Haben wir eigentlich schon ein Ticket gelöst?
Pizza Buntstift
Wo wir beim Essen waren: Täuscht der Eindruck, oder sitzen die Bambini in der Trattoria im Ferienparadies Italien mitten auf dem Mittagstisch und machen dem Pizzaiolo mit ihrem Hunger die Hölle heiss, ohne dass ihnen jemand mit einem Stück Weissbrot den Mund stopfte?
Dort: Geschrei und Geselligkeit, Lustigkeit und Laissez-faire – während wir hierzulande den Nachwuchs vorzugsweise an einen Nebentisch setzen, ihm Ausmalbildchen mit saudoofen Sujets vorsetzen und sofort Saures geben, wenn sie sich die eingetrockneten Filzstifte mit einem Süssgetränk wiederzubeleben versuchen.
Solche Manöver sind natürlich neueren entwicklungspsychologischen Erkenntnissen geschuldet. Stichwort: Selbst ist das Kind. Das setzte allerdings voraus, man verhalte sich nicht wie jene Väter auf dem Spielplatz, die angriffige Krabbelmonster vor dem Erstürmen der Sandburg abhalten, die sie aus dem Boden gestampft haben – aber nur für das eigene Kind.
Alt aussehen
Was ich noch aus der Zeit erinnere, als ich mich immer freiwillig an den Kindertisch setzte, bevor ein Erwachsener abkommandiert wurde, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen oder die Penne aus dem Parkett zu puhlen: Am Kindertisch war es nicht nur lustiger, sondern vor allem lehrreicher. Die Grossen debattierten über ihre Müdigkeit und Makrame. Die Kleinen wollten das Wesentliche wissen.
Nicht mehr Nagelneues aus meinem Notizbuch: «Möchtest du lieber in einer Schneelawine sterben oder einem Steinschlag?» «Ist der Mensch wirklich ein Nachtschattengewächs?» «Seit wann ist die Menschheit nochmal ausgestorben?» Für die Kinder mag es so richtig wie wichtig sein, wenn wir sie sich selbst überlassen. Wir Erwachsenen sehen ohne sie nur noch alt aus.
Zimmer mit Aussicht
Unlängst überraschte mich eine Kollegin mit der Ansage, so etwas Krudes wie Kinderzimmer gebe es bei ihnen nicht mehr. Sie hätten jetzt einen Raum, in dem Jung und Alt arbeite oder bastle, Scrabble spiele oder das vermaledeite Fortnite. In diesem Gemach werde geschlafen, und den Raum da drüben nenne man scherzhaft «Saloon», weil es hier auch mal knalle. «Die Türe!»
Sie hätten, sagte mir die Dame, alle Räume altersgrenzüberschreitend nach Funktionen eingerichtet. Sie sei an ihre Grenzen gekommen – jetzt gebe es keine Grenzen mehr. Das wäre nun nichts für mich und meine Platzangst. Aber ich fürchte, völlig verkehrt ist es nicht.