Wir alle schlagen bei Wikipedia nach. Weil wir an den Wahrheitsfindungsprozess der vielen glauben – oder weil Wikipedia-Artikel bei Suchanfragen weit oben auftauchen. Pro Sekunde rufen mehrere tausend Nutzer die Online-Enzyklopädie auf. Kein Wunder, dass sich Parteien, Unternehmen und Verbände gut darstellen möchten.
PR-Agenturen haben in der Wikipedia längst ein Geschäft gewittert: Sie kassieren und verhindern dafür, dass Kritik an ihren Kunden auftaucht. In Grossbritannien wurden kürzlich 250 Artikel gesperrt, weil sie von PR-Agenten manipuliert wurden. In den USA wurde Sarah Stierch, eine Mitarbeiterin der Wikimedia-Foundation, entlassen, weil sie parallel gegen Bezahlung in der Wikipedia schrieb. Denn: Unabhängiges und objektives Schreiben gehört zu den Grundwerten der Wikipedia.
Schönfärberei an Nestlé-Artikel
Auch auf deutschsprachigen Seiten wird professionell schöngefärbt, wie eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung in Frankfurt zeigt. Nach Aussage von Marvin Oppong, dem Verfasser der Studie, werden da nicht nur Umsatzzahlen verfälscht, sondern auch kritische Aussagen gelöscht.
So zum Beispiel im Artikel über Nestlé: Nach Aussage von Oppong hat der Nutzer «7Pinguine» einen kritischen Abschnitt entfernt, in dem es um Verunreinigung des Trinkwassers ging. Auch wenn nicht nachgewiesen konnte, wer das und warum gelöscht hat, so führt die IP-Adresse von «7Pinguine» doch in Unternehmerkreise: zur Trumpf-Gruppe, dem Weltmarktführer im Bereich industrieller Lasertechnik.
Bei 1,6 Millionen deutschsprachigen Artikeln kann Marvin Oppong auch nach seiner umfangreichen Studie keine Aussage darüber treffen, wie hoch der Anteil von PR in der Wikipedia ist. Sicher ist aber: Es ist ein weit verbreitetes Phänomen.
Offenheit vs. Kontrolle
Ist professionelle PR eine ernsthafte Gefahr für die freie Wikipedia? Dirk Franke ist seit zehn Jahren Wikipedianer, Gründer des Projekts «Umgang mit bezahltem Schreiben» und Wikipedia-Administrator. Für den Politikwissenschaftler ist die Diskussion über PR in der Wikipedia wichtig, eine Gefahr für die Qualität sieht er aber nicht: «Die Qualität der Wikipedia existiert nur, weil es offen und frei für alle ist. In Bezug auf Werbung ist es ein ewiges Aushandeln und Abschätzen, wie viel Freiheit und Offenheit man erlauben kann. Und wie strikt die Kontrollmechanismen angezogen werden müssen.»
Zum jetzigen Zeitpunkt sieht Dirk Franke keine Notwendgkeit, die Kontrolle zu verstärken. «Es gibt mehrere tausend freiwillige Wikipedianer, die Bearbeitungen angucken. Die Erfahrung zeigt, dass sehr viele dieser Bearbeitungen einfach erkennbar und rückgängig zu machen sind. Einfach, weil PR-Leute anders denken und formulieren, als es in Wikipedia angebracht ist.» Ausserdem, so fügt der Wikipedianer hinzu, geht es in der Wikipedia vor allem um klassische Bildungsthemen – nicht um Artikel über Unternehmen, Politiker oder Promis.
Plädoyer für kritisches Lesen
Auf Aufklärung statt verstärkte Kontrolle setzt auch Patrick Kenel, der interimistische Präsident des Fördervereins Wikimedia Schweiz: «Wir sind sehr daran interessiert, dass die Öffentlichkeit Wikipedia-Inhalte besser beurteilen kann. Dass sie nicht nur die Artikel, sondern auch die Versionsgeschichte und die Diskussionen zu einem Thema lesen.» Beide würden von Nutzern kaum geöffnet. Vielleicht, weil sie oben rechts im Artikel etwas versteckt sind. Vielleicht auch, weil sich Nutzer nicht die Mühe machen, einen langwierigen Schreib-Prozess nachzuvollziehen.
Und genau da liegt das eigentliche Problem: Wir wollen alles glauben können, was in der Wikipedia – oder sonst irgendwo im Internet – steht. So einfach ist das natürlich nicht: Bei kritischen Inhalten ist davon auszugehen, dass Menschen bestimmte Interessen an deren Darstellung hegen und manipulieren. Statt uns über PR aufzuregen, sollten wir vor allem kritisch lesen. Und bestenfalls in der Wikipedia mitschreiben, um der Wahrheit Stück für Stück näher zu kommen.