Dieses Buch behandelt grosse Fragen: Wie viel Anonymität verträgt das Internet? Und werden Debatten besser, wenn wir mit offenem Visier streiten? Und es kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, denn das Thema brodelt. Online-Medien erkennen, dass der Umgangston in den Kommentarspalten zum Problem wird. Ein neuer Leserdialog muss her – Medien wie die «Süddeutsche Zeitung» nehmen sich selbst in die Pflicht (hier geht's zum Artikel dazu).
Die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig bemerkte während ihrer Recherche: Es gibt viel wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema, doch Medien tun sich schwer, die richtigen Rezepte zu finden, um User-Debatten in gesittete Wege zu leiten. Ihr Buch «Der unsichtbare Mensch» taucht ein in die Geschichte der Anonymität. Es beleuchtet, wie das Internet die Anonymität revolutionierte und sagt, was Online-Medien und User tun können, um den Umgangston zu verbessern.
Ein Stellvertreterkrieg
Der Ruf, Anonymität einzuschränken wird lauter: von Bürgern wie auch von Staaten – und schliesslich auch von immer mehr Medien. Sie wollen Kommentare nur noch unter echtem Namen gestatten. Das hat viel mit dem Erfolg von Facebook, das den richtigen Namen zum Standard machte und Pseudonyme – zumindest in der Theorie – ablehnt.
Die Debatte um Klarnamen sei ein Stellvertreterkrieg, meint Brodnig. «Im Kern geht es darum, wie wir das menschliche Miteinander in digitalen Zeiten regeln wollen, wie wir ein Mindestmass an Respekt wahren können.» Und weiter: «Ich plädiere weder für null noch für hundert Prozent Anonymität, sondern für eine komplexe Auseinandersetzung mit diesem Thema.» Und diese Auseinandersetzung liefert Brodnig auf knapp 180 Seiten.
Missstände aufdecken dank Anonymität
In einer idealen Welt, einer lupenreinen Demokratie, würden alle Leute mit Namen zu dem stehen, was sie sagen. Es ginge freundlich und gesittet zu und her – es würde mit harten Argumenten und Meinungen gefochten. Weil aber unsere Gesellschaft nicht so wohlfeil ausgefallen ist, gibt es sehr gute Gründe für Anonymität – auch im Netz.
Ingrid Brodnig nennt Beispiele: Sie sprach etwa mit dem chinesischen Cyberdissidenten unter dem Pseudonym Michael Anti. Nur mit seiner künstlichen Netz-Identität konnte er zu einem bedeutenden Kritiker der Missstände in seinem Land werden. Er verdankt seinen Mut auch dem Umstand, dass er sich online neu erfinden konnte. Heute wirkt er in den USA und ist als @mranti vor allem auf Twitter aktiv. Twitter akzeptiert sein Pseudonym, Facebook hingegen nicht.
Klarnamenpflicht führte zu Datenklau
«Gerade in einer Zeit, in der manch ein Staat ungeheure Überwachungsapparate aufbaut, ist es doch sehr gewagt, allzu sorglos auf Anonymität und Bürgerrechte zu verzichten», schreibt Brodnig. Sie setzt sich sehr detailliert damit auseinander, was «anonym» überhaupt noch bedeutet in Zeiten von NSA, Vorratsdatenspeicherung und Big Data.
Anonyme Räume komplett abzuschaffen, kann gefährlich werden, wie Brodnig am Beispiel Südkorea aufzeigt: Das Land führte 2007 als erstes weltweit die Klarnamenpflicht für grosse Websites ein, und scheiterte: Der Hass ging langfristig nicht zurück, kritische Blogger landeten vor Gericht und es führte schliesslich 2011 zu einem gigantischen Datenklau von 35 Millionen Bürgern.
Es findet ein Umdenken statt
Aber Ingrid Brodnig zeigt auch sehr ausführlich die Schattenseiten von Anonymität auf. Wie in der anonymen Masse die Wut hochkocht oder wie Anonymität radikalen Gruppen hilft. Und man fragt sich aufgrund vieler anschaulicher, ungeheuerlicher Beispiele tatsächlich, wem jetzt Anonymität noch nützt.
Und was bedeutet das Ganze für Online-Medien? Dazu hat Brodnig eine klare Meinung, und sie ist optimistisch: «Websites fangen immer mehr an, Verantwortung für ihre eigenen digitalen Räume zu übernehmen.» Sei es mit der Abschaffung der Anonymität, mit mehr Moderation oder technischen Tools. Ein Umdenken finde auch bei Usern statt. Das Bewusstsein und die Verantwortung für ihr Online-Verhalten wachsen.