Liebes Virus
Es stimmt schon, was du uns seit einer ganzen Weile mitteilen willst: Wir müssen alle sterben. Irgendwann! Alle!
Wieso aber verbreitetes du diese sinnlose Aufregung? Wieso kannst du die Regierenden nicht davon überzeugen, uns Menschen wenigstens metaphorisch vor den Schrecken deiner tödlichen Kraft zu befreien?
Erfolgswesen wollen immer lächeln, immer gut drauf sein, als ein Zeichen von Optimismus und Zukunftsgläubigkeit. Lächerlich!
Natürlich spreche ich hier als Schriftsteller und Romantiker, der den Kult um die Krankheit gerade in der Literatur zu schätzen gelernt hat. Zu Zeiten der Tuberkulose galt zum Beispiel der melancholische Charakter – oder der tuberkulöse – als ein überlegener: empfindsamer, schöpferischer, ein besonderes Wesen.
Ich weiss, Erfolgswesen wollen immer lächeln, immer gut drauf sein, als ein Zeichen von Optimismus und Zukunftsgläubigkeit. Lächerlich! Die Krankheit war einmal der Weg, langweilige Menschen «interessant» zu machen – und gerade so ist «romantisch» ursprünglich auch definiert worden. «Das Ideal der vollkommenen Gesundheit», schrieb Novalis in einem Fragment von 1800, «ist nur wissenschaftlich interessant». Was wirklich interessiert, ist die Krankheit, «die zur Individualisierung gehört».
Kranksein ist ein Weg, sich von der Welt zurückzuziehen, ohne für diese Entscheidung die Verantwortung übernehmen zu müssen.
Wieso, liebes Virus, zeigen uns die Corona-Verantwortlichen immer nur deine schreckliche Seite. Wieso verweisen sie nicht auf die Vorteile, damit sich die Lage entspannt. «Ich sehe blass aus», sagte der Schriftsteller Lord Byron, als er in Interlaken eintraf. «Ich würde gerne an einer Schwindsucht sterben. Weil die Damen alle dann sagen würden: Seht doch, den armen Byron, wie interessant sieht er als Sterbender aus!» Es war ein Zeichen von Vornehmheit, von Sensibilität, traurig zu sein.
In Thomas Manns «Zauberberg» wird der Bürger erst durch seine Krankheit tatsächlich geistig verfeinert. Romantiker wie Frédéric Chopin, D.H. Lawrence oder Virginia Woolf erfanden das Kranksein als Vorwand für Müssiggang und die Entledigung von bürgerlichen Verpflichtungen zugunsten eines ausschliesslich der Kunst gewidmeten Lebens. Es ist ein Weg, sich von der Welt zurückzuziehen, ohne für diese Entscheidung die Verantwortung übernehmen zu müssen: Das eigene Leben «runterfahren»!
Ich hoffe doch sehr, liebes Virus, dass die Verantwortlichen im neuen Jahr sehr viel mehr über deine Vorteile berichten, die subversiven Sehnsüchte, die tiefere Wahrheit deiner Schreckherrschaft. Damit wir wieder entspannen können.