«40 Prozent der Kinder zeigen Auffälligkeiten im sprachlichen Bereich, 19 Prozent im motorischen Bereich, 30 Prozent im sozialen Bereich», sagt Studienleiter und Generationenforscher Rüdiger Maas.
Das sei nur eine kleine Auswahl der wichtigsten Ergebnisse der Studie über die Generation Alpha – also jener Kinder, die seit 2010 geboren wurden. All diese Ergebnisse sind besorgniserregend.
Besorgniserregende Befunde
Die Studie fokussiert auf das deutsche System mit Kinderkrippe (Alter null bis maximal drei Jahre), Kindergarten (ab ca. drei Jahren bis Schuleintritt), Hort (Kinder im Grundschulalter) und Grundschule (ca. sechs bis zehn Jahre).
Für die Studie wurden mit 70 Erzieherinnen und Erziehern Gespräche geführt. Daraus wurde ein Online-Fragebogen entwickelt, der anonym von 1231 Lehrkräften ausgefüllt wurde. Zudem wurden über 600 Eltern zu ihrem Erziehungsverhalten befragt.
Zu den Eltern vermerkt die Studie:
- Die Überbehütung durch sogenannte «Helikopter-Eltern» oder auch «Rasenmäher-Eltern» (so genannt, weil sie jedes Hindernis aus dem Weg räumen) kann ein Grund für die steigende Unselbstständigkeit der Kinder sein. 27 Prozent der 8- bis 9-jährigen Kinder werden laut Einschätzungen der Pädagoginnen und Pädagogen von ihren Eltern überbehütet. Davon sind 75 Prozent Jungs. Diese Überbehütung nehme mit steigendem Alter paradoxerweise auch noch zu, sagt Studienleiter Maas. Überbehütung könne sich gleich nachteilig auf die Entwicklung des Kindes auswirken wie Vernachlässigung. Das habe weitreichende Folgen, so Maas: «Nur eines dieser Kinder kann die Entwicklung in einer Gruppe nachteilig beeinflussen.»
- «Aktionseltern», wie Maas sie nennt, überfluten ihr Kind mit Events. Es dürfe sich nicht langweilen und habe keine Zeit mehr, um Erlebtes zu verarbeiten. Kinder könnten deshalb nicht mehr vertieft spielen.
- 17 Prozent der Kinder werden nicht witterungsgemäss angezogen, weil Eltern die Geduld und Zeit fehlen, das zu diskutieren. Erzieherinnen und Erzieher hätten Maas zuhauf rückgemeldet, dass Eltern ihnen das Kleidungsstück in die Hand drückten mit den Worten: «Machen Sie das, ich hab’s nicht geschafft.»
- Noch nie sei eine Elterngeneration derart verunsichert gewesen. Sie würden «erstmal das Internet konsultieren, wie sie sich zu verhalten hätten und würden Lehrkräfte um Rat bitten, wie sie zuhause erziehen sollen», sagt Maas im Interview.
Dramatische Studienergebnisse
Die «Generation Alpha»-Studie untersuchte Sprache, Sozialverhalten, Motorik sowie Medienkonsum. Zu den beobachteten Auffälligkeiten zählen unter anderem:
- Sprachliche Auffälligkeiten im Kindergarten: Nur 7 Prozent der Kinder sprechen so deutlich, dass es die Betreuerinnen nicht als Auffälligkeit definieren. Im Hort sei die Beherrschung der Grammatik zu 78 Prozent auffällig.
- Im Kindergarten werden bei 87 Prozent Häufigkeiten von motorischen Auffälligkeiten beobachtet.
- Auffälligkeiten im sozialen Bereich: Beim Schliessen von Freundschaften zeigen 67 Prozent im Kindergarten Auffälligkeiten. Beim Lösen von Konflikten 73 Prozent, im Schulalter 87 Prozent.
- 56 Prozent der 4- bis 5-jährigen Kinder zeigen kein altersentsprechendes vertieftes Spielen.
Auf der Website des Instituts für Generationenforschung wird Rüdiger Maas mit dem Satz zitiert: «In Deutschland gab es noch nie so viele unglückliche Kinder.» So titelte auch die Süddeutsche Zeitung. Allgemein ist das Presseecho gross, die Studienergebnisse werden weitgehend unhinterfragt übernommen.
Expertinnen und Experten relativieren
Bei Sachverständigen wirft die Studie aber Fragen auf. Lennart Schalk ist Leiter des Instituts für Unterrichtsforschung und Fachdidaktik der Pädagogischen Hochschule Schwyz. Er findet, dass bei der Darstellung der Ergebnisse auf der Website des Instituts für Generationenforschung «Qualitätsmerkmale aufgeführt sind, die vermutlich nicht zutreffend sind.»
Dort stehe, es handle sich um eine repräsentative Studie. Bei anonym ausgefüllten Online-Fragebögen seien Aussagen über Repräsentativität jedoch schwierig, sagt Schalk: «Es müsste eine gezielte Auswahl sein. Eine repräsentative Studie hinzubekommen, erfordert einen sehr hohen Aufwand.»
Wie repräsentativ ist diese Studie wirklich?
Schalk attestiert der Studie zwar, dass durchaus ein grosser Aufwand dahinter zu stehen scheine: «Deshalb will ich das auch nicht alles schlechtreden, aber in dieser Studie wird viel durcheinander gewürfelt, wo man vorsichtiger sein müsste.» Zum Beispiel dürfte das Medienverhalten eines Zweijährigen anders sein als das eines Zehnjährigen, sie werden aber in einer generellen Aussage über die gesamte Generation Alpha zusammengefasst.
Schalks Einschätzung teilt auch Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «1231 Pädagoginnen anonym 22’511 Kinder beurteilen zu lassen und circa 600 Eltern zu befragen, lässt kaum repräsentative Rückschlüsse auf alle Kinder in Deutschland zu.»
Graubereich wird in Kauf genommen
Studienleiter Rüdiger Maas hingegen sagt im Interview, es gehe nicht anders als anonym. «Kein Lehrer kann sich hinstellen und sagen, in meiner Klasse passiert das und das.»
Da sei eine «Unschärfe», räumt Maas ein, zumal manche Lehrkraft «an einem bestimmten Tag empfindlicher ist als eine andere Person an einem anderen Tag» und unabhängig von der Tagesform sei es «nie für alle gleich, was überhaupt als Auffälligkeit wahrgenommen wird.»
Der Fragebogen, der aus den qualitativen Interviews mit den 70 Lehrkräften hervorging, ist für Lennart Schalk von besonderem Interesse. Da der Fragebogen nicht veröffentlicht wurde, lässt sich nicht nachvollziehen, wie die Fragen formuliert wurden. Der Wortlaut sei aber wichtig, sagt Schalk: «Interessant dürfte sein, wie suggestiv die Fragen waren.»
War der Fragebogen stark suggestiv, dann bestätige er, wie wirkmächtig eine sogenannte selbsterfüllende Prophezeiung sei: Beschreibt man Auffälligkeiten, besteht die Tendenz, dass diese in der Untersuchung auch gefunden werden.
Lennart Schalk erinnert daran, dass man in einer Untersuchung der 1960er- und 1970er-Jahre Lehrern, die neu eine Klasse übernahmen, im Vorfeld zu bestimmten Schülerinnen und Schülern sagte, sie seien sehr gut oder schwierig – was nicht stimmte. Aber nach einem halben Jahr zeigten die Schülerinnen und Schüler die prophezeiten Eigenschaften.
Pauschalaussagen über eine ganze Generation
Schalk sieht auch die Aussagen über die ganze Generation Alpha kritisch. Ein Detail möge sein, dass die Generation Alpha die von 2010 bis 2025 Geborenen umfasse: «Die letzten vier Jahrgänge sind also noch gar nicht auf der Welt. Da kann noch was kommen.»
Die Daten so zusammenzufassen, wie Maas das gemacht habe, «führt zu Zahlen, die kaum interpretierbar sind. Was heisst, dass 45 Prozent der 0- bis 10-jährigen regelmässig den Fernseher nutzen? Vermutlich können Zweijährige den gerade mal anschalten.»
Fragen werfe auch das Untersuchungsergebnis zu den sprachlichen Auffälligkeiten im Alter von null bis zehn Jahren auf: «Wie kommen die Betreuerinnen auf Auffälligkeiten? Nach allem, was ich weiss», sagt Lennart Schalk, «haben fast alle Kinder im Alter von null bis zwei Jahren nichts anderes als sprachliche Auffälligkeiten.» Schliesslich beginnen sie gerade erst mit dem Sprechen.
Hier besteht Handlungsbedarf
Susanne Walitza sagt, Studien seien immer nur ein Mosaikstein eines Bildes. Was sie an manchen Studien störe, sei das Schwarzmalen: Ein katastrophierender Umgang mit erkannten Defiziten helfe niemandem, sondern beeinträchtige die Suche nach Lösungen.
Die Studie beschreibe trotz allem drei wichtige Aspekte, die sich mit ihren eigenen Erfahrungen deckten. Hier bestehe Handlungsbedarf:
- Auf die Eltern bezogen: Beim Ergebnis, die Generation Alpha sei unselbstständig, fragt sich Susanne Walitza: «Wo lernt man denn Selbstständigkeit im Alter zwischen null und zehn Jahren?». Da sei die Elterngeneration angesprochen: «Diese sind selbst in einem recht geschützten Kokon aufgewachsen ohne grössere Krisen. Die Studie zeigt, dass wir die Eltern noch mehr unterstützen müssen, ihre Kinder als selbstständig wahrzunehmen.»
- Auf die Kinder bezogen: Bei den katastrophalen Ergebnissen bezüglich des Spracherwerbs plädiere Walitza pragmatisch für gezielte Förderprogramme. Die seien mit dem Unterrichtsausfall in der Coronazeit ohnehin nötig, weil im Home-Schooling das Lernen im Klassenverband und das Spielen mit Gleichaltrigen gefehlt habe. Nicht nur die unter 10-Jährigen hätten gelitten. Eine Studie der WHO zeige, dass es auch den 11- bis 15-Jährigen schlechter gehe. Verstärkt träten bei ihnen Schlafstörungen und Angstattacken auf. Die Studie warte mit validen Daten aus 45 Ländern auf.
- Auf die Lehrkräfte bezogen: Lehrkräfte hätten «über die Jahre Kompetenzen entwickelt, solche Defizite überhaupt zu bemerken». Bei der ersten PISA-Studie habe man sich noch gewundert, wie schlecht die Ergebnisse waren. Heute seien Lehrkräfte einerseits viel sensibilisierter, auf der anderen Seite zeige das sehr hohe Burn-out-Niveau dieser Berufsgruppe, dass neben der Wissensvermittlung nicht unbegrenzt weitere Aufgaben übergeben werden könnten.
Walitzas Fazit: Sowohl bei Lehrkräften, Eltern als auch Kindern gebe es Handlungsbedarf: «Das ganze System braucht Unterstützung.»
Wie sieht es an der Basis aus?
Christine Maywald, Kindergartenlehrperson in der Nähe von Basel, ist seit über 20 Jahren im Beruf. Sie betreut derzeit zusammen mit einer Kollegin 37 Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren. Was fängt sie mit der Studie an?
Die katastrophalen Ergebnisse in Bezug auf die sprachlichen Auffälligkeiten finde sie so nicht wieder, sagt sie. Allerdings beobachte sie sehr wohl, dass die Konzentration und das Verstehen von Geschichten «schneller abnehmen als noch vor 20 Jahren».
Seit längerer Zeit führe sie deshalb «Tischtheater» auf: Sie erzähle die Geschichte anhand von Figuren und Landschaften. Im eigenen Theaterspiel könnten die Kinder mithilfe von Fingerversen und kurzen Trommelspielen Sprache mit Gestik und Rhythmus verbinden. Das Verstehen und Erinnern seien so anders.
Kinder sollen Konflikte selber lösen
Maywald findet die Unterstützung bei der Entwicklung des Sozialverhaltens sehr wichtig. Da fühle sie sich durch die Studie bestätigt, denn: Vermehrt wüchsen Kinder als Einzelkind bei vielleicht nur einem Elternteil auf. Darum unterstütze sie schon früh, dass die Kinder Erfahrungen in der Gruppe machen könnten.
Viele Erfahrungen, die Maywald als Kind selbst noch machen konnte, wie «draussen mit einer Bande um die Häuser zu ziehen und Verbotenes tun», könnten heutige Kinder kaum noch erleben: «In meinem Kindergarten ist mir ein gewisser apädagogischer Raum wichtig, wo ich nicht alles sehe und kommentiere.»
Maywald vergrössert altersgerecht Freiräume und Eigenverantwortung. Konflikte lässt sie die Kinder oft selber lösen. Im Gegensatz zu Resultaten der Studie sind Kinder bei ihr mehrheitlich dazu in der Lage und auch zur Selbstorganisation: «Mit der Zeit planen sie richtig miteinander, was sie bauen wollen. Alle Kinder fühlen sich wichtig und kommen in einen Spielfluss.»
«Kinder sind verplanter als früher»
Die Überflutung mit Events, die die Studie konstatiert, sei in der Tat Thema. «Ich habe heute auch Kinder, die nicht mehr aufnahmefähig sind. Sie kommen in den Kindergarten, um sich zu erholen.»
Maywald wünscht sich von Eltern mehr Gelassenheit in Bezug auf die Entwicklung ihrer Kinder, und dass man sich auch mal mit den Kindern an einem Sonntag richtig langweilt.
«Generation lebensunfähig»
Mitte November erscheint die Buchpublikation von Rüdiger Maas. Titel: «Generation lebensunfähig». Trotz aller Kritik bietet die Studie besonders für Eltern Denkanstösse, wie man sein Kind besser unterstützen kann. Sie beschreibt Phänomene und widerspiegelt Alltagsbeobachtungen, die zu breit aufgestellt sind, als dass man sie einfach wegwischen könnte.