Es ist Abend: Die Waschmaschine läuft, die Wohnung ist aufgeräumt, die letzten Erledigungen abgehakt. Jetzt ins Bett liegen und ein Buch lesen: Das wäre schön. Wie spät ist es eigentlich?
Ein Blick aufs Smartphone: Es ist 22 Uhr – und: 2 Nachrichten auf Whatsapp, 9 Neuigkeiten auf Facebook, die News-App leuchtet. Nur schnell checken, zwei Artikel überfliegen, dem Link folgen, das Video anschauen – und das danach. Schon ist eine Stunde wie im Flug vergangen. Dabei wollte man doch nur die Uhrzeit wissen.
Verführerische Technologie
Die Mitglieder des Center for Humane Technology wissen genau, wie man unser Gehirn mit Technologie verführen kann. Sie hatten selbst dazu beigetragen. Dagegen kämpfen sie jetzt an.
Die Idee zum Center for Humane Technology hatte Tristan Harris: ein junger, rothaariger Idealist und ehemaliger Ethikrat-Vorsitzender bei Google. Mit im 16-köpfigen Team sitzt auch Justin Rosenstein, der den Facebook-Like-Button miterfand, oder Achtsamkeits-Guru Jon Kabat-Zinn.
Was ist das Problem?
Sie alle wollen das «versteckte Ziel» von Facebook, Snapchat, Youtube und Google aufdecken: Den «race for attention», das «Wettrennen um unsere Aufmerksamkeit».
Denn damit, so Harris und sein Team, verdienen die Firmen ihr Geld: Indem wir ihren Plattformen Aufmerksamkeit spenden. Darum seien Facebook, Google, Snapchat und Youtube so gestaltet, dass wir danach süchtig werden – und ihnen somit immer mehr von unserer Zeit und Aufmerksamkeit schenken.
Wie ist es entstanden?
Wie diese Abhängigkeit entsteht, erklärt Medienpsychologin Sarah Genner: «Die Silicon-Valley-Firmen nutzen Methoden aus der Welt der Spielhöllen. Aus Experimenten mit Ratten hat die Gambling-Industrie herausgefunden, dass die Casinos mehr Geld verdienen, wenn sie den Spielern häufig einen kleinen Gewinn auszahlen – statt selten einen grossen.»
Denn: Bei jedem kleinen Gewinn wird im Gehirn Dopamin ausgeschüttet. Bleibt der Dopaminspiegel hoch, hört man nicht auf zu spielen.
Diese Mechanismen machen sich die Silicon-Valley-Firmen zunutze, indem sie uns häufig Benachrichtigungen aufs Handy schicken. Dazu gehört auch der «Autoplay»-Button von Youtube, der uns zum Weiterschauen verführt.
Oder die Facebook-Filterblasen, die uns immer weiter in unserer Bubble schweben lassen. Oder Instagram, das uns ein Leben so schön wie eine Postkarte zeigt. Oder – vor allem bei Jugendlichen beliebt – die «Streaks» von Snapchat.
Was sind die Folgen?
Die Folgen dieser Mechanismen seien verheerend, so das Center for Humane Technology: Schlafmangel, Zerstückelung der Gesellschaft, Zerstörung unseres Selbstwertgefühls und eine schädliche Definition von Freundschaft.
Sie gehen sogar noch weiter: Das System erschüttere die Pfeiler unserer Gesellschaft. In Gefahr seien nicht nur unsere psychische Gesundheit und sozialen Beziehungen, sondern auch unsere Kinder und die Demokratie.
Ist das nicht etwas übertrieben? «Da ist selbstverständlich amerikanisches Pathos drin», wägt Medienpsychologin Sarah Genner ab.
«Aber es ist auch eine Gegenbewegung zur Technologie-Industrie, die ihre positiven Seiten ähnlich dramatisch ankündigt hatte – etwa, wenn gesagt wurde, dass das Internet die Demokratie retten würde und dass Facebook den Weltfrieden ermögliche, indem sich alle vernetzen», so Genner.
Was tun?
Das Center for Humane Technology plädiert für «Human Design»:
- Nicht alle Firmen unterwerfen sich den «race for attention»-Dogmen. Apple, Samsung oder Microsoft beispielsweise funktionieren anders. Diese Unternehmen könnten mithelfen, unser Gehirn zu schützen.
- Die Politik kann Druck auf die Firmen ausüben.
- Auch die einzelnen Menschen können sich im Bewusstwerden üben, ob ein Produkt wirklich etwas Gutes für uns tut.
- Unterstützung der Tech-Mitarbeiter: Die meisten von ihnen handeln mit guten Absichten, sind aber dem System ihrer Firma ausgeliefert.
Die Absichten klingen zwar gut – sie sind aber noch ziemlich unpräzis. Zudem wird das Thema des Daten-Tracking nahezu vollständig ausgeklammert.
Ganz konkret wird’s aber bei den Tipps, wie man sich im Alltag zumindest heute vor dem «race for attention» schützen kann. Am aufschlussreichsten ist die Liste über die Gefühle, die der App-Gebrauch in uns auslöst.
Oft hängt unsere Zufriedenheit von der Benutzungsdauer ab. Schenken wir einer App täglich nur ein bisschen Zeit, kann sie uns zufrieden stimmen. Brauchen wir sie zu lange, werden wir unglücklich.
Die Folgen des «race for attention» von Facebook und Co. können wir also täglich am eigenen Leib erfahren – und mit einem bewussten Umgang in die Schranken weisen.