Eine Lähmung durch Rückenmarksverletzung galt lange als unumkehrbar, sofern nicht innerhalb der ersten paar Monate etwas Bewegungsfähigkeit zurückkehrte. Neue Forschungsergebnisse der ETH Lausanne (EPFL) und des Unispitals Lausanne machen Hoffnung, dass die Lähmung nicht so endgültig sein könnte wie bisher gedacht.
Drei Patienten mit Rückenmarksverletzung, durch die sie seit über vier Jahren grösstenteils gelähmt waren, können dank eines Reha-Programms die Beine wieder bewegen.
Mithilfe von Elektrostimulation und Stützen gelingt es zwei von ihnen sogar, wieder zu gehen – wenn auch noch ruckartig und sehr konzentriert. Der dritte Teilnehmer hat gelernt, mit seinen Beinen wieder Druck auszuüben. So kann er etwa ein Handvelo (siehe Bild unten) antreiben.
Erfolg bei Tierversuchen
Das Rehabilitationsprogramm beruht in erster Linie auf Elektrostimulation von motorischen Nerven über Elektroden, die den Patienten am Unispital Lausanne chirurgisch am Rückenmark eingepflanzt wurden.
Solche Elektrostimulation war in Tierversuchen bereits erfolgreich getestet worden. Bei Patienten jedoch hielten sich die Erfolge bisher in Grenzen, wie das Fachblatt «Nature» in einer Mitteilung zur Lausanner Studie schrieb.
Erfolge innert einer Woche
Das Team um die Lausanner Wissenschaftler Jocelyne Bloch und Grégoire Courtine scheint nun eine Hürde überwunden zu haben, indem sie die Aktivierungsmuster für die Elektrostimulation optimiert haben.
Dank dieser Stimulation konnten die Patienten innerhalb einer Woche gestützte Gehversuchen auf einem Laufband bis hin zu gestütztem Laufen auf dem Boden unternehmen.
Nach insgesamt fünf Monaten Reha-Programm konnten die Patienten ihre Beine auch ohne Elektrostimulation willentlich bewegen. Mit Stimulation und Hilfsmitteln wie Krücken oder Rollator gelang es ihnen sogar zu gehen.
Das menschliche Nervensystem habe noch besser auf die Behandlung angesprochen als sie vermutet hätten, so Courtine. Dennoch bedeute die Therapie hartes Training für die Patienten: Sie mussten lernen, die Bewegungsabsicht ihres Gehirns mit der Elektrostimulation ihrer Nervenfasern zu koordinieren.
Bewegungskontrolle ohne Stimulation
Erst kürzlich hatten zwei Studien aus den USA von Erfolgen mit Elektrostimulation bei komplett Querschnittsgelähmten berichtet, allerdings blieb die Bewegungsfähigkeit abhängig von der Stimulation.
Bemerkenswert an den Resultaten der Forschenden aus Lausanne sei, dass eine gewisse Bewegungskontrolle auch nach Ausschalten der Stimulation erhalten blieb, wie Chet Moritz von der University of Washington in Seattle in einem Begleitartikel zu den jüngsten Studien schrieb.
Nicht für alle Patienten
Unabhängige Experten warnen jedoch vor überzogenen Erwartungen durch die neuesten Studienergebnisse. Sie seien noch weit von einer Übertragbarkeit in die klinische Routine entfernt, sagte Winfried Mayr von der Medizinische Universität Wien.
Man dürfe gegenüber den Betroffenen nicht die unberechtigte Hoffnung wecken, es gäbe eine für alle anwendbare Lösung, die sie wieder auf die Beine bringe.
«Jede Querschnittsverletzung führt zu sehr individuellen Veränderungen in der Bewegungskontrolle», so Mayr weiter. Nur personalisierte Ansätze könnten zu Verbesserungen führen. «Bei Weitem nicht alle Patienten können, auch mit grösstem technischen und therapeutischen Aufwand, mit einem Wiedererlangen der beschriebenen Bewegungsfunktionen rechnen.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 1.11.2018, 6:01 Uhr