Der virtuelle Trip beginnt im Jahr 1870 hoch über dem Aletschgletscher in einem Zimmer des Hotels Belalp. Hier logiert der Brite John Tyndall, ein Pionier der Klima- und Gletscherforschung. In der Simulation führt er durch die Zeitreise.
«Schau durch das Fenster», fordert mich Tyndall auf, «kannst du sehen, wie weit der Gletscher ins Tal gereicht hat? Ich staune jedes Mal.»
Nur noch grauer Talboden
Ich staune auch. Durchs Fenster ist tatsächlich das weisse Band des Aletschgletschers zu sehen, viel weiter als es heute der Fall ist, glaube ich mich wenigstens zu erinnern. Bald drängt Reiseleiter Tyndall zum Aufbruch: «Reisen wir zum Bettmerhorn.»
Schwupp, und ich bin dank virtueller Realität zehn Kilometer gletscheraufwärts gehüpft und blicke zurück Richtung Belalp. Plötzlich sehe ich, wie der Eisstrom unter mir schrumpft, schmilzt, schwindet – die virtuelle Zeitmaschine eilt mit mir von 1870 nach 1970. Wo vorher noch Gletscher war, bleibt nur grauer Talboden zurück.
Der eisige Konkordiaplatz ist nicht mehr
Das dicke Ende kommt aber erst: John Tyndall will schon wieder weiter in Raum und Zeit. Wir springen nach Norden zu einem Ausblick über dem berühmten Konkordiaplatz.
Unter meinen Füssen sehe ich die riesige Eismasse, die hier wohl 600 Meter dick ist. Blicke ich die Berge hoch, sehe ich den Jungfraufirn und den grossen Aletschfirn, weiss und majestätisch – noch, jetzt im virtuellen Jahr 1970.
John Tyndall dreht an der Uhr und die Zeit rast ins Jahr 2070. Unter mir schmilzt die Gletscherherrlichkeit im Zeitraffer zu einem kümmerlichen Rest tief unten in der Senke, die die Eismassen über die Jahrtausende aus dem Felsen geschmirgelt haben. Der eisige Konkordiaplatz ist nicht mehr, nun ist alles grau.
Dämme gegen das Schmelzwasser
Vom Berg gegenüber donnert ein Felssturz ins Tal. John Tyndall hängt in einem virtuellen Bildschirm über der Szenerie und erklärt väterlich-ruhig: Der Permafrost, der die Berge zusammenhalte, sei geschmolzen, darum sei vermehrt mit Bergstürzen zu rechnen.
Im Jahr 2070 müssten sich die Menschen neuen Realitäten anpassen, zum Beispiel Dämme bauen, um das Schmelzwasser aufzufangen.
Als er das sagt, wächst vor meinen Augen ein mächtiger Damm in die Höhe. Dann ist die ernüchternde Zeitreise vorbei.
Beeindruckende virtuelle Zeitreise
Der Gletscherforscher Andreas Linsbauer von der Universität Freiburg hat an diesem Visualisierungsprojekt mitgearbeitet. Und auch wenn er täglich sozusagen in Daten von Gletschern badet, die virtuelle Zeitreise sei etwas anderes:
«Was wir im Computer bearbeiten sind letztlich Daten, auch wenn wir sie zu Szenarien und Bildern zusammensetzen können. Aber wenn man die Vorgänge in der virtuellen Realität selbst verfolgen kann, ist das schon beeindruckend.»
Die Gletscherschmelze wird zwar auch sichtbar auf vergleichenden Fotos, die am selben Ort, aber mit vielen Jahren Abstand, aufgenommen worden sind.
Oder man sieht sie auf der Wanderung in den Bergen, wenn die Landkarte in der Hand nicht mehr die Neueste ist, und die Gletscherfront in der Landschaft schon ganz woanders liegt als jene auf dem Papier.
Aber wenn man mit John Tyndall auf Zeitreise geht und um sich herum die Eismassen dank VR-Technologie in Windeseile dahinschmelzen sieht, dann wirkt der Kontrast besonders stark und das zurückbleibende Grau besonders grau.