SRF: Ein Katastrophenszenario wie ein Blackout – so die weit verbreitete Meinung – führt in Kürze zu Anarchie, Gewaltausbrüchen und Plünderungen. So haben wir es auch schon unzählige Male in Hollywood-Filmen gesehen. Matthias Holenstein, Sie sagen in Ihrer Studie, dass das nur ein Mythos ist.
Matthias Holenstein: Selbstverständlich wird es auch in einer Katastrophensituationen vereinzelt Gewalt und Plünderung geben. Genauso, wie es sie im Alltag bei uns auch gibt. Während Katastrophen erhalten solche Taten allerdings eine hohe mediale Aufmerksamkeit. Auch fiktive Katastrophenfilme verstärken dieses Bild.
Studien und Erfahrungsberichte zeigen jedoch auf, dass sich Menschen überwiegend ruhig und prosozial verhalten, solange keine akute Lebensbedrohung besteht. Dies gilt vor allem für Gesellschaften, in denen es – wie in der Schweiz – relativ wenig soziale Spannungen gibt.
In Ihrer Studie haben Sie internationale Literatur zum Verhalten von Menschen in Katastrophensituationen untersucht. Welche Katastrophen sind das – und lassen sich diese Resultate auf die Schweiz übertragen?
Wir haben uns auf Katastrophen und Notlagen wie beispielsweise grosse Blackouts oder schwere Unwetter fokussiert. Soziale Unruhen oder Terrorismus etc. haben wir nicht angeschaut. Viele Untersuchungen sind im Ausland gemacht worden, da für die Schweiz glücklicherweise relativ wenige Erfahrungen vorliegen.
Bei der Übertragbarkeit der Resultate ist zu erwähnen, dass Katastrophen stets auch ein Spiegelbild der regionalen Wirklichkeit darstellen. Fragen dazu sind: Wie stark ist Gewalt ausgeprägt? Wie gross ist das Vertrauen in die Behörden?
Sie gehen davon aus, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung bei einer Katastrophe ruhig und rational verhält. Weshalb bleibt die Bevölkerung selbst in Extremsituationen cool?
Die Studie
Es gibt kaum Gründe, für die Mehrheit der Menschen vom Gegenteil auszugehen. Sowohl bei individuellen als auch gesellschaftlichen Extrem- und Gefahrensituationen wird der Mensch in eine Art Alarmbereitschaft versetzt.
Ein passendes Verhalten trägt dazu bei, die Situation zu meistern, und steigert unsere Überlebenschancen. Ein gutes soziales Umfeld ist dabei sehr hilfreich.
Zudem sind Menschen oft erstaunlich lern- und anpassungsfähig. Zentral für das Bewahren der «Coolness» sind die Befriedigung der Grundbedürfnisse und eine klare Kommunikation seitens Behörde beziehungsweise der Einsatzkräfte.
Welche Faktoren könnten andererseits Grund dafür sein, dass die Situation «kippt» und tatsächlich Anarchie und Chaos Überhand nehmen?
Anarchie und Chaos sind zwei extreme Begriffe. Es gibt einige Faktoren, die eine gewisse Instabilität begünstigen können, wie beispielsweise widersprüchliche Kommunikation, bereits bestehendes Misstrauen in die Behörden oder wie bereits erwähnt, wenn eine akute Bedrohung der eigenen Existenz besteht. Kommen mehrere dieser Faktoren zusammen, ist es denkbar, dass bestimmte Gruppierungen an Macht gewinnen, polarisieren und soziale Unruhen begünstigen.
Sie haben es mehrfach erwähnt: Die richtige Kommunikation nimmt eine wichtige Rolle ein. Was zeichnet eine gute Kommunikation in einer Krisensituation aus?
Eine klare Kommunikation seitens Behörden ist zentral. Dabei sind vor allem speziell sogenannte vulnerable Gruppen zu berücksichtigen. Also Menschen die sich selber eher schlecht helfen können, da sie zum Beispiel nicht die Sprache beherrschen, psychisch oder physisch beeinträchtigt sind oder kein soziales Netz haben.
Deshalb sind in der Kommunikation unterschiedliche Kanäle und Personen einzusetzen. Warum nicht eine Hebamme für die Kommunikation mit Müttern mit Neugeborenen einsetzen oder einen «Influencer» beiziehen, der in den sozialen Medien eine hohe Resonanz hat?
Wenn Menschen zu viel Vertrauen in die Behörden haben, kann das auch zu einem Problem werden. Dann nämlich, wenn sie die nötigen Vorsorgemassnahmen nicht durchführen, weil sie glauben, die Behörden würden es im Falle eines Falles sowieso richten. Ich könnte mir vorstellen, dass das gerade in der Schweiz, in der sonst alles perfekt funktioniert, ein besonderes Problem darstellt.
Im Hinblick auf die Prävention gilt es seitens Behörden die richtige Sprache und den richtigen Kanal zu verwenden, um das Vorsorgeverhalten «anzustossen». Dazu gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Auch neue Ansätze, wie sogenannte Gamification-Ansätze sind zu prüfen. Diese versuchen, relevantes Wissen spielerisch zu vermitteln.
Zudem gilt es den richtigen Zeitpunkt zu finden: Präventionsbotschaften wird nach einem verheerenden Hochwasser mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als in Zeiten, in denen alles «normal» verläuft.
Das Gespräch führte Dominik Stroppel.
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