«Ich hätte nicht erwartet, dass es hier schon so schlecht aussieht.» Margit Schwikowski steht ernüchtert im matschigen Schnee.
Was die Umweltchemikerin an diesem sonnigen Herbsttag auf dem Gletscher des Walliser Grand Combin vorfindet, ist die schockierende Erkenntnis, dass auch auf über 4000 Metern Höhe die Gletscher bereits schmelzen. Mit ihnen verschwinden Jahrtausende von Klima-, Umwelt- und Menschheitsgeschichte, die sich im Eis verbergen.
Seit fünf Tagen lebt und arbeitet das Forschungs-Team der Universität Venedig und des Aargauer Paul-Scherrer-Instituts auf dem Corbassière-Gletscher, der hier oben auf rund 4100 Metern seinen Ursprung hat. Knapp zwei Wochen wollen sie bleiben – eigentlich. Doch es wird anders kommen.
Gletscher sind Archive
Die Forschenden haben ihr Werkzeug aufgebaut: einen elektrisch betriebenen Bohrer, der sich insgesamt dreimal durch den Gletscher schneiden und Bohrkerne aus Eis und Schnee liefern soll.
Läuft alles gut, bergen die Eiskernforscher gefrorene Geschichte der letzten 10‘000 Jahre und leisten damit einen Schweizer Beitrag für das von der Unesco geförderte Projekt Ice Memory.
«Wir bergen Eiskerne von Gletschern, die zunehmend unter der Temperaturerhöhung leiden, und lagern sie dann in der Antarktis. Damit können wir diese wunderbaren Archive aufbewahren für zukünftige Generationen von Wissenschaftlern», erklärt Margit Schwikowski.
Bohrkerne zeigen, wie sich das Klima verändert
Wie wertvoll Eiskerne aus hochalpinen Gletschern für die Wissenschaft sind, machen die Umweltchemikerinnen des Paul-Scherrer-Instituts sichtbar. In ihrem Eislabor bereiten sie die Bohrkerne für die chemische Analyse vor.
Jede einzelne Jahres-Schicht eines Gletschers enthält bestimmte chemische Spurenstoffe – Russpartikel oder Schwermetalle. Sie geben Auskunft über Klima und Umwelt der Vergangenheit.
So konnten Umweltchemiker bereits an Eiskernen aus den gesamten Alpen nachweisen, dass die Luftverschmutzung in Europa seit rund 150 Jahren immer weiter zunimmt.
Nahezu alles, was sich aus der Luft als feiner Staub mit dem Schnee auf einem Gletscher niederschlägt, lässt sich heute – oder in Zukunft – analysieren, um daraus Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu ziehen. Unter anderem findet man im Eis Pflanzenpollen, Pilzsporen, sogar Bakterien oder Viren.
Nach 25 Metern bleibt der Bohrer stecken
Auf dem Grand Combin arbeitet sich das Ice-Memory-Team in die Tiefe des Gletschers vor. Mit jedem Eiskern wächst jedoch das Unbehagen. Bereits der Zustand der ersten Bohrkerne entspricht nicht den wissenschaftlichen Anforderungen.
«In etwa 20 Metern Tiefe haben wir eine wasserführende Schicht. Da holen wir den Eiskern hoch und es läuft Wasser raus», sagt Margit Schwikowski. Vor zwei Jahren war der Gletscher bei Probebohrungen an dieser Stelle noch völlig intakt.
In einer Tiefe von 25 Metern bleibt der Bohrer schliesslich stecken. Auch eine zweite Bohrung an anderer Stelle scheitert in derselben Tiefe. Damit ist klar: Dieser Gletscher schmilzt bereits in seinem Quellgebiet.
«Wo können wir denn noch hingehen?»
Nach nur einer Woche brechen die Forschenden ihre Expedition ab. Der Frust sitzt tief, denn mit dem Grand Combin verliert die Wissenschaft eine ihrer letzten Hoffnungen für einen unbeeinträchtigten Bohrkern aus den Alpen. Der Umweltchemiker Thomas Singer bringt es auf den Punkt: «Wir sind jetzt schon auf 4100 Meter. Wo können wir denn noch hingehen?»
Auch Margit Schwikowski will ihre Enttäuschung nicht verbergen, wenngleich sie noch längst nicht aufgeben mag: «Es gibt vermutlich nur noch einen Gletscher in den Alpen, wo wir eine sehr gute Konservierung haben, und das ist der Colle Gnifetti am Monte Rosa. Der liegt 400 Meter höher.»
Von den ehemals rund 5000 Gletschern in den Alpen gibt es jetzt also nur noch einen einzigen, der helfen kann, die Klima- und Kulturgeschichte Europas zu konservieren. Die Zeit dafür drängt – mehr denn je.