Wenig Schnee im Winter und hohe Temperaturen im Sommer: 2017 war ein schlechtes Jahr für die Schweizer Gletscher. Wie viel Eis ist noch übrig?
Matthias Huss: Es ist noch einiges übrig – auch nach wiederholt sehr schlechten Jahren. Die Schweizer Gletscher bedecken insgesamt noch eine Fläche von der Grösse des Kantons Schwyz. Ihr Volumen beträgt rund 50 Kubikkilometer. Das ist weniger als halb so viel wie um 1850, als die Gletscher ihre letzte grosse Ausdehnung erreicht hatten.
Seither schwinden die Gletscher. Geschieht dies gleichmässig oder beschleunigt sich der Prozess?
Der Rückgang in den letzten 170 Jahren weist verschiedene Phasen auf. In den 1940er-Jahren und seit 1985 war der Schwund besonders schnell. Dazwischen gab es zwei – allerdings kurze – Perioden, in denen die Gletscher sogar etwas wuchsen.
Das war zwischen 1910 und 1920 sowie am Ende der 1970er-Jahre. Seit 30 Jahren schmilzt das Gletschereis nun rasant. Und in den letzten 10 bis 15 Jahren scheint sich der Prozess nochmals beschleunigt zu haben.
Kritiker sagen, das sei alles kein Grund zur Panik: Es hätte immer wieder Eiszeiten gegeben und Zeiten, in denen sich die Gletscher zurückzogen. Was sagen Sie dazu?
Das Klima hat sich schon immer geändert – auch ohne den Menschen. Das stimmt. Was wir aber jetzt beobachten, ist keine gleichmässige Verschiebung über mehrere hundert Jahre, sondern eine extrem starke Änderung in kurzer Zeit.
Zwar gab es auch in der früheren Erdgeschichte abrupte Klimaveränderungen – etwa, als die Dinosaurier ausstarben. Diese Veränderungen lassen sich aber jeweils auf äussere Ursachen wie einen Meteoriteneinschlag oder extreme Vulkanaktivität zurückführen.
Das ist bei der aktuellen Erwärmung anders: Die Ursache kann hier klar auf den erhöhten Kohlendioxid-Ausstoss zurückgeführt werden, der den Treibhauseffekt verstärkt.
Auch wenn das Temperaturniveau stabil bleiben würde, ziehen sich die Gletscher weiter zurück.
Lässt sich denn der Rückzug der Alpengletscher noch bremsen oder sogar stoppen?
Der Gletscherschwund lässt sich bremsen, wenn die Kohlendioxid-Emissionen weltweit schnell und sehr deutlich reduziert werden. Stoppen lässt er sich leider nicht.
Die Gletscher werden sich auch im günstigsten Fall, wenn die Temperaturen gar nicht mehr steigen, weiter zurückziehen. Denn die Eismassen reagieren verzögert auf Temperaturänderungen. Je nach Volumen dauert es 10 bis 50 Jahre, bis ein Gletscher jene Grösse erreicht hat, die er im aktuellen Klima halten kann. Das heisst: Auch wenn das Temperaturniveau nun stabil bleiben würde, ziehen sich die Gletscher trotzdem noch über Jahrzehnte weiter zurück.
Auch ein rigoroser Klimaschutz bringt den Gletschern also kaum etwas?
Wenn wir den Klimaschutz stark vorantreiben, ist es möglich, die globale Temperatur bei einem Plus von zwei Grad zu stabilisieren. In dem Fall könnten wir wenigstens die grössten Alpengletscher bewahren, allerdings auch dann in viel kleinerer Ausdehnung als heute.
So wäre es auch unseren Enkeln noch möglich, ewiges Eis zu bewundern. Will man hingegen die Zunge des Aletschgletschers noch retten, ist es leider zu spät.
In der Schweiz experimentiert man mit dem Abdecken und neuerdings mit künstlicher Beschneiung von Gletschern. Bringt das etwas?
Das bringt auf jeden Fall etwas. Schnee schützt das Gletschereis auf natürliche Weise. Wenn man die Schneedecke dicker machen oder länger erhalten kann, dann verringert das den Eisverlust deutlich.
Genauso ist es beim Abdecken mit weissen Tüchern. Damit kann man das Abschmelzen um 50 bis 65 Prozent reduzieren. In der Schweiz wird das seit Jahren praktiziert – zum Beispiel in Andermatt oder im Engadin. Das funktioniert zwar für einige hundert Quadratmeter, wenn ein Skigebiet das Eis an einer bestimmten Stelle erhalten will.
Die Gletscher «retten» kann man mit diesen Methoden allerdings nicht. Für den ganzen Gletscher wäre der Aufwand wie auch der Eingriff ins Ökosystem zu gewaltig.
Woher nimmt man das Wasser und die Energie, um die ganze Fläche von mehreren Quadratkilometern zu beschneien? Wie bringt man die Technik an Ort und Stelle? Und noch viel wichtiger: Was sind die Kosten im Vergleich zum Nutzen?
Es ist zwar schön, wenn ein Gletscher durch solche Massnahmen weniger schnell zurückgeht. Ist es aber sinnvoll, dafür jedes Jahr mehrere Millionen zu investieren? Diese Frage müsste man gründlich abklären.
Was schätzen Sie, wann werden die Alpen komplett eisfrei sein?
Man geht aktuell von einem Verlust von etwa 80 Prozent des Eisvolumens bis 2100 aus – bei «guter» Klimaentwicklung. Ohne Klimaschutz wären es über 95 Prozent. Das heisst: Auf den höchsten Spitzen wird es in jedem Fall auch in 100 Jahren noch etwas Eis geben.
Mit den heutigen Gletschern ist das dann aber nicht mehr vergleichbar. Und von den kleineren Gletschern sind bereits heute viele verschwunden. Alleine im Schweizer Nationalpark gab es bis 1970 noch rund ein Dutzend kleine Gletscher. Heute sind alle komplett weg.
Ich glaube nicht, dass der Beruf des Glaziologen in den nächsten Generationen ausstirbt.
Gletscher sind ja nicht einfach nur schön anzuschauen, sie dienen uns auch als Wasserspeicher. Eine Schweiz ohne ewiges Eis – wäre das nicht eine Katastrophe?
Die Gletscher erfüllen verschiedene Funktionen, unter anderem für den Wasserhaushalt: Im Winter oder in nassen und kühlen Jahren speichern sie Wasser. Im Sommer oder in trockenen und warmen Zeiten geben sie es dann wieder frei.
Es wäre sicher sinnvoll, diese Wasserspeicher-Funktion auszugleichen, indem man Speicherseen baut. Das kann dort geschehen, wo bisher Gletscher waren. Denn diese Gebiete sind noch nicht von Pflanzen besiedelt und als Gesteinswüsten nicht so wertvoll. Das hier gespeicherte Wasser könnte man zudem für die Stromproduktion nutzen. Solche Seen könnten zumindest einen Teil der Speicherkapazität der Gletscher kompensieren.
Alles in allem werden wir auch mit gletscherfreien Alpen leben können. Aber es werden andere Alpen sein, als wir sie heute kennen.
Mit den Gletschern schmelzen Ihnen ja Ihre Forschungsobjekte weg. Ist das nicht frustrierend? Und ist Ihr Beruf damit nicht vom Aussterben bedroht?
Frustrierend ist das, ja. Allerdings ist es auch spannend, da wir uns in einer Zeit des Wandels befinden, wo Altes geht und Neues entsteht. Ich glaube nicht, dass der Beruf des Glaziologen in den nächsten Generationen ausstirbt.
Denn wenn es einst keine Gletscher in den Alpen mehr zu erforschen gibt, wird die Forschung in Grönland und in der Antarktis noch viel wichtiger werden. Die Gletscher reagieren innert Jahrzehnten auf Klimaänderungen. Die grossen polaren Eisschilde hingegen brauchen deutlich länger, bis sie sich grundlegend verändern. Die Auswirkungen sind dann aber umso grösser: Man geht davon aus, dass der Meeresspiegel um 0,4 Meter ansteigt, wenn alle Gletscher der Erde schmelzen. Verschwinden aber die polaren Eisschilde, sind es über 60 Meter.
Das wird zwar in den nächsten tausend Jahren nicht eintreten. Aber nur schon eine Erhöhung des Meeresspiegels um ein bis zwei Meter hätte dramatische Konsequenzen für die ganze Menschheit.
Das Gespräch führte Susanne Bernard.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 24.11.2017, 09.00 Uhr.