Gletscher fliessen abwärts. Das ist ihre Natur. Mit dem Klimawandel aber ziehen sie sich zurück. Fast die Hälfte der Gebirgsgletscher wird Ende des Jahrhunderts Geschichte sein. Selbst wenn es gelingt, die Erwärmung auf 1.5 Grad zu begrenzen.
Saisonal beschleunigt wird das grosse Schmelzen mit dem Frühling. Was vom Gletscher übrigbleibt, sind sichtbare Steinwüsten und verborgenes Eis. Toteis genannt.
Toteis bleibt liegen
Es ist ein glazialer Kontaktabbruch, der Gletschereis zu Toteis macht. Während das eine mobil ist, fliesst oder sich zurückzieht, bleibt das andere liegen. Tot ist es nicht wirklich, aber regungslos.
Toteis entsteht, wenn ein rasch schmelzender Gletscher nicht gleichmässig taut. Auch wenn der grösste Teil eines Gletschers dahin ist, bleiben einzelne Eisblöcke verwaist zurück. Meist da, wo das Gletschereis einst besonders mächtig war: in Vertiefungen, die das fliessende Eis über viele Jahrtausende in den Stein geschliffen hat.
Totes Eis lebt länger
Da ruhen sie dann, die abgehängten Eisblöcke und werden nach und nach unter Sedimenten begraben und unsichtbar fürs Auge.
Die Sedimentdecke ist eine prima Isolationsschicht. Meist ist es Sand, der vom Schmelzwasser des Gletschers heran geschwemmt wird. Die Sedimente schützen das Eis vor der Sonne und damit vor Wärme. So kommt es, dass totes Eis erstaunlich langlebig ist. Besonders dann, wenn der Eisbrocken auf Permafrostboden liegt. Das älteste bekannte Toteis wird seit 70’000 Jahren von der Kälte und vom Dauerfrostboden in Nordwestsibirien konserviert.
Auf das Eis folgt der See
Bleibt es lange warm und schmilzt der Permafrost unter dem Eis weg, ist aber auch gut geschütztes Toteis bald dahin.
Toteisseen in der Schweiz
-
Bild 1 von 5Legende: Toteisseen haben nicht nur eine identische Entstehungsgeschichte. Sie sind allesamt auch einfach sehr schön. Rund und ruhig liegen sie in der Landschaft. Oft eingefasst von Bodenstrukturen, die verraten, wie hier einst Sedimente einsackten. Bild: Ägelsee im aargauischen Möhlinerfeld wikimedia / Tschubby
-
Bild 2 von 5Legende: Ein schönes Beispiel in der Schweiz ist der Morgetshofsee in der Schaffhauser Gemeinde Thayngen. Er ist ein Relikt des Rheingletschers und entstand am Ende der letzten Eiszeit, der Würmkaltzeit, vor etwa 18'000 Jahren. Heute ist er ein Naturschutzgebiet und aufgelistet im Bundesinventar der Amphibienlaichgebiete von nationaler Bedeutung (IANB). Wikimedia / Tschubby
-
Bild 3 von 5Legende: Der Lützelsee im zürcherischen Hombrechtikon ist ein Überbleibsel des Linthgletschers und ein richtiger Bilderbuchtoteissee. Auch er ist klein, daher sein Name. «Lützel» bzw. «lüzzel» bedeutet im Mittelhochdeutschen «klein». Wie der Barchetsee hat auch der Lützelsee schwimmende Inseln aus Schilfpflanzen. Wikimedia / Adrian Michael
-
Bild 4 von 5Legende: Auch der Barchetsee im thurgauischen Neunform ist ein Toteissee, dessen Bett vom Thurgletscher geformt wurde. Sein Name erinnert daran, wozu er einst genutzt wurde. Um aus Hanfstängeln Barchentstoff herzustellen, legte man die Stängel zuerst ins Wasser des Seeleins. So wurden die zähen Pflanzenfasern weich und geeignet für die Weiterverarbeitung. Wikimedia / Leo Wehrli, Koloriert Margrit Wehrli-Frey
-
Bild 5 von 5Legende: Zu den Toteisseen in der Schweiz zählen auch der Husemersee im Zürcher Weinland, der Mettmenhaslisee im Zürcher Unterland, der Ägelsee im aargauischen Möhlinerfeld oder der Wilersee im zugerischen Menzingen. Bild: Husemersee Wikimedia / Pechristener
Das Eis schmilzt, der darüberliegende Sedimentdeckel sackt nach und es kann sich ein Toteisloch bilden. Darin sammelt sich Wasser. Je nach Lage füllt sich das Loch mit Grundwasser oder Niederschlagswasser. Seltener auch durch Zuflüsse kleiner Oberflächengewässer.
So entsteht ein Toteissee. Viele kleine und kleinste Seen in der Schweiz sind noch heute Zeugnisse des einstigen grossen Schmelzens. Oft sind die Seen klein, kreisrund und ohne sichtbaren Zu- und Abfluss.
Vielleicht werden aus Gletschern von heute die kleinen Seen von morgen. Beispielsweise aus dem Pizolgletscher, der nur noch aus Toteisresten besteht. Begraben unter Schutt und Geröll.
-
Bild 1 von 2Legende: Aktivistinnen und Aktivisten sitzen vor dem Pizolgletscher in Mels, während einer Gedenkveranstaltung für den schwindenden Gletscher. Keystone / GIAN EHRENZELLER
-
Bild 2 von 2Legende: Mit Blick auf den Wildsee und den Pizolgletscher: Ein Wanderer spielt Akkordeon im Rahmen der Gedenkveranstaltung im Jahr 2019 für den schwindenden Gletscher. Keystone / GIAN EHRENZELLER
Der Pizolgletscher wurde im Jahr 2019 in einer Trauerfeier symbolisch für tot erklärt und bestattet. Die Gäste trugen Schwarz.