Ein feiner Nieselregen fällt auf den Gewächshaustunnel am Dorfrand von Les Evouettes, einem winzigen Ort im Unterwallis. Dieser Sommertag Anfang August fühlt sich an wie in den Tropen. Ideale Bedingungen sind das für die Arbeit von Saatgutanbauer Tulipan Zollinger.
Er führt zusammen mit seinen beiden Brüdern Tizian und Til das Unternehmen Zollinger Samen. Der Betrieb mit knapp 20 Angestellten hat sich darauf spezialisiert, biologisches Saatgut zu vermehren.
Gut Gemüse will Weile haben
Im tropischen Gewächshaustunnel kann man sehen, wie das Saatgut gewonnen wird. Neben langen Reihen prächtiger Tomatenstauden stehen fast etwas verschämt halb vertrocknete Stängel. Fenchelpflanzen seien das, erklärt Tulipan Zollinger.
«Diesen Fenchel haben wir letztes Jahr gesät, im Herbst dann geerntet und im Keller überwintert.» Das Gemüse wurde dann diesen Frühling neu gesetzt, sodass die Pflanzen nun ausschiessen, blühen, und schliesslich Samen bilden.
Die Natur braucht Zeit
Wie der Fenchel brauchen auch Karotten, Sellerie oder Zwiebeln noch ein zweites Jahr, bis sie Samen ausbilden. Ihre Samen zu gewinnen ist zeitaufwendig – gleichzeitig aber kann Tulipan Zollinger so die Qualität der Sorten überprüfen: «Wir müssen den Fenchel sehen, um eine Selektion zu machen. Nur die schönen und robusten Exemplare werden dann geerntet und wieder gesät.»
In zehn Tagen etwa werden diese Fenchelblüten gedroschen und gereinigt. Dafür bläst eine Maschine von unten her Wind durch das gedroschene Saatgut und trennt so die dichten Samenkörner von Staub und Strohresten.
Tipps mit Youtube-Clips
Bis vor kurzem belieferten die Brüder Zollinger vor allem Hobbygärtner und Heimgärtnerinnen in der ganzen Schweiz. «Seit einigen Jahren nun bemerken wir deutlich den Trend des ‹urban gardening› oder ‹Stadt-Gmüeslä›», stellt Tulipan Zollinger fest. «Dahinter stehen meist sehr motivierte Leute, die aber wenig Erfahrung besitzen und darum beim ersten Mal oft einen Misserfolg erleben.»
Zollingers haben auf diese neue Kundschaft reagiert. Ihr Katalog enthält mittlerweile seitenweise Tipps und Tricks, sie versenden regelmässig einen Newsletter und stellen Youtube-Videos mit Anleitungen ins Netz.
Erfolg mit Tradition
In den langen Regalen im Verkaufsraum reihen sich die fein säuberlich abgepackten Körnchen und Kügelchen aneinander. Da stehen Kopfsalat, Eichblattsalat und Zuckerhut neben Carmelle-Tomaten, Zitronenbasilikum und Blumenmischungen. Gut 400 verschiedene Sorten umfasst das Sortiment der Zollinger-Samen.
Der Grossteil davon sind traditionelle Sorten. Die seien gerade sehr in Mode, sagt Tulipan Zollinger. Doch gerade weil sie alt sind, müssten sie auch an die veränderten klimatischen Bedingungen angepasst werden. «Zum Beispiel sieht man während diesem heissen Sommer, dass gewisse Bohnensorten Mühe haben, überhaupt zu blühen. Daran müssen wir jetzt arbeiten.»
Beginn als Bio-Pioniere
Gegründet haben das Unternehmen Tulipan Zollingers Eltern. Sie begannen in den 1980er-Jahren damit, auf dem Land von Garten zu Garten zu ziehen. Sie baten die Besitzerinnen und Besitzer um Saatgutproben und bauten so über die Jahre ein vielfältiges Sortiment auf.
Von Anfang an vermehrten Tulipan Zollingers Eltern die Sorten auf biologische Art und Weise – damals noch etwas sehr Neues, das von vielen belächelt wurde. Und auch damals schon mussten sich die Bio-Pioniere auf einem Markt behaupten, der von grossen Agrarkonzernen dominiert wurde.
Gegen die Dominanz der Agrarkonzerne
Die grössten Saatgutkonzerne – darunter Monsanto/Bayer, Syngenta/ChemChina und das amerikanische Unternehmen DowDupont – kontrollieren heute rund 60 Prozent des weltweit gehandelten Saatguts für den kommerziellen Anbau.
Für Europa bedeutet das: Drei Viertel des Saatguts für Mais stammen aus der Hand von lediglich fünf Konzernen. Beim Gemüse liefern die fünf wichtigsten Konzerne gar 95 Prozent des Saatguts.
Das hat Konsequenzen. Für diese grossen Agrarkonzerne lohnt es sich nicht, regional angepasste Sorten zu entwickeln und herzustellen. Sie setzen auf Sorten, die sich weltweit vermarkten lassen. Das bedeutet wiederum, dass ein grosser Teil der Sortenvielfalt verloren gegangen ist – oder droht, verloren zu gehen.
Alt heisst nicht unbedingt gut
Dagegen wehren sich die Brüder Zollinger mit ihrem Unternehmen. Tulipan Zollinger hält zwar nicht alle alten Sorten für erhaltenswert: «Viele davon sind nicht mehr angebaut worden, weil sie schlechte Erträge lieferten, weil sie anfällig waren auf Krankheiten oder weil sie nicht gut geschmeckt haben.»
Jene alten Sorten aber, die sich bewährt haben, gehören zum Kerngeschäft der Zollinger Samen. Ihre Herkunft verraten diese Sorten oft noch mit ihrem Namen – so zum Beispiel die Isérables-Bohne.
Menschen und Pflanzen in Symbiose
Das Dörfchen Isérables war bis in die 1930er-Jahre nur zu Fuss erreichbar. «Alles, was die Leute damals im Garten anbauen konnten, mussten sie nicht ins Dorf hinauftragen», erzählt Tulipan Zollinger. «Diese Bohne war darum eine wertvolle Eiweissquelle für die Landbevölkerung.»
Die Bohne ist das Resultat einer wechselseitigen Entwicklung, die Kulturpflanzen und Menschen miteinander durchlaufen haben. «Es war eine Art Symbiose zwischen den Pflanzen und den Menschen, die diese Sorten hervorbrachten.» Indem die Menschen jeweils die besten Pflanzen im Folgejahr neu anbauten, hätten sie bereits mit dem Züchten von Sorten begonnen.
Aus Altem Neues schaffen
Auch am anderen Ende der Schweiz, in einer idyllischen Flussschleife wenige Kilometer unterhalb des Rheinfalls, dreht sich alles um biologische Pflanzensorten. Im kleinen Ort Rheinau konzentriert sich das Team der Sativa Rheinau AG darauf, aus alten Sorten neue zu züchten.
Auch hier spielen Bohnen eine wichtige Rolle. «Stangenbohnen haben eine lange Tradition in der Schweiz, denn sie ergeben auf relativ wenig Fläche viel Ertrag. Darum haben die Töchter von ihren Müttern oft ein paar Bohnensamen als Mitgift erhalten, wenn sie auf einen neuen Hof eingeheiratet haben», sagt Amadeus Zschunke, Geschäftsleiter der Sativa Rheinau AG.
Stangenbohnen als Mitgift
Der Gartenbau-Ingenieur Amadeus Zschunke und die etwa 40 Angestellten von Sativa Rheinau AG züchten unter anderem mit Zuckermais, Zwiebeln, Salat, Karotten – und eben: Stangenbohnen.
Gerade hängen nur noch vertrocknete Hülsen an den hohen Ranken. Der Sativa-Mitarbeiter Achim Drüke steht mit Sonnenhut zwischen den Reihen und pflückt sie ab.
«Wir nehmen die Bohnen von jeder Ranke einzeln ab», erklärt Achim Drüke. «An jeder Ranke hängt auch ein Etikett mit einer Zahl, sodass wir wissen, was das für eine Bohnensorte ist.» Das ist wichtig, wenn aus diesen Bohnen später neue Pflanzen gezogen und damit weitergezüchtet wird.
Neue Sorten – für Mensch und Tier
Im besten Fall erntet Achim Drüke hier eine erfolgreiche neue Sorte: eine widerstandsfähige Bohne, die möglichst gute Erträge liefert. Und in diesem besonderen Fall versucht Amadeus Zschunke, auch eine Bohnensorte mit besonders viel Blättern heranzuzüchten. Denn diese Bohne soll die Mais-Silage verbessern, die in der Tierfütterung eingesetzt wird.
«Silo-Mais enthält normalerweise etwa sechs, sieben Prozent Proteine. Wenn dieser Mais kombiniert mit einer passenden Bohnensorte angebaut würde, könnte man den Proteingehalt auf gut zehn Prozent erhöhen», erklärt Amadeus Zschunke. Dadurch müsste den Tieren weniger Kraftfutter gefüttert werden und so auch weniger importiert werden – oft Soyaschrot aus Südamerika.
Langer Atem
Jene Bohnenpflanzen mit besonders viel Blattwuchs, die ausserdem gut zusammen mit Maispflanzen wachsen, kreuzt Amadeus Zschunke wieder miteinander und untersucht im Jahr darauf ihre Nachkommen.
«Diese Pflanzen müssen wir dann noch sechs, sieben Mal neu anpflanzen und wieder ernten, damit sie ihre neuen Eigenschaften nicht wieder verlieren», sagt er. «Das ist dann eben der Grund, warum Züchtung nicht so schnell geht.» Je nach Pflanze kann es gut zehn Jahre bis zu einer neuen Sorte dauern.
Wenig Nutzen von Gentechnik
Durch gentechnische Methoden liesse sich diese Arbeit beschleunigen. Die Entdeckung der Gen-Schere CRISPR/Cas9 hat auch im Bereich der Pflanzen neue Möglichkeiten eröffnet. Bei der Sativa Rheinau AG werde bewusst auf diese Techniken verzichtet, sagt Amadeus Zschunke. Einerseits, weil das Unternehmen auf Biolandbau setzt.
Anderseits hätten diese neuen Methoden die Hoffnungen noch nicht einlösen können, die in sie gesetzt werden. «Wenn wir zum Beispiel versuchen, eine Sorte Dürre-resistenter zu machen, dann erreichen wir das nur über ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Genen.» Manipulationen an einzelnen Stellen im Erbgut würden da wenig weiterhelfen.
Die eigene Nische verteidigen
Auf die Gentechnik setzen zudem schon die grossen Agrarkonzerne. Doch in der Schweiz und anderen europäischen Ländern sind gentechnisch veränderte Nahrungsmittel für den menschlichen Verzehr verboten oder nicht akzeptiert. Das eröffnet Amadeus Zschunke und seinem Team eine Nische für die Züchtung von regional angepassten Pflanzensorten für den Biolandbau.
Darum versteht Amadeus Zschunke seine Arbeit auch als Widerstand dagegen, wie sich der Weltmarkt für Saatgut in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. «Ich bin der Meinung, wenn man den wenigen grossen Firmen das Feld kampflos überlässt, dann entscheiden die, was morgen in der Schweiz gegessen wird.»