Von der Pizolhütte im Sarganserland führt der Weg steil hoch zur Wildseeluggen. Der Glaziologe Matthias Huss geht voran. Als wir um einen Felsvorsprung biegen, öffnet sich die Sicht auf einen grossen Talkessel.
Huss erkennt sofort: «Es ist nicht mehr viel vom Gletscher da», sagt er, «Jedes Mal, wenn man kommt, ist es wieder schlimmer.»
Die Vermessung der Bergwelt
Matthias Huss von der ETH Zürich ist einer der Forscher, die den Schweizer Gletschern für das Messnetz «Glamos», Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen den Puls messen. Von zwanzig Gletschern wird jedes Jahr berechnet, wie viel Eis sie verloren haben, von Dutzenden weiteren die Änderung ihrer Länge.
Damit verfolgt der Bund, wie stark die Klimaerwärmung den Gletschern zusetzt. Das ist zum Beispiel für die Wasserversorgung der Kraftwerke wichtig oder für die Landwirtschaft.
Die Wildseeluggen ist etwa einen Kilometer vom Pizolgipfel entfernt. Im steilen Geröll darunter liegen ein paar Eisfelder, die grössten sind etwa hundert mal fünfzig Meter gross.
Auch auf dem Eis liegt viel Schutt. Schnee hat es kaum mehr auf den Eisflächen. «Das heisst, dass das Eis nicht mehr vor der Wärme geschützt ist und schmilzt», sagt Matthias Huss.
Halbjährliche Messungen am Pizolgletscher
Was wir vom Gletscher noch sehen, seien Eisreste, sagt Huss. Vor 150 Jahren habe der Gletscher fast den ganzen Kessel ausgefüllt.
Matthias Huss kommt seit 2006 Jahr für Jahr mindestens zweimal hier hoch. Im Mai misst er wie viel Schnee es im Winter gegeben hat. Schnee, der den Gletscher vergrössern könnte, wenn er den Sommer überleben würde und sich langsam in Firn und dann Eis verwandelte. Das zweite Mal kommt Huss im September, um zu messen, wie viel Eis sich gebildet hat oder eben eher: wie viel abgeschmolzen ist.
Aufstieg durch wackeliges Geröll
Wir kraxeln durchs Geröll hoch, durch das der Pizolgletscher als Schmelzwasser ins Tal strömt. Wo sich das Eis zurückzieht, bleibt wackeliges Geröll im Steilhang zurück. Zum Schutz tragen wir Helme – aber das nütze kaum etwas gegen die grösste Gefahr, warnt Matthias Huss: Es seien schon zwei bis drei Tonnen schwere Brocken heruntergeschlittert. «Da kann man nur noch wegrennen.»
Schliesslich erreichen wir ein steiles Eisfeld. Um weiter zu kommen, müssen wir die Steigeisen montieren. Mitten im eisigen Hang steckt ein dickes Aluminiumrohr: ein Messpegel. Matthias Huss misst, wie hoch das Rohr aus dem Eis ragt. Dies vergleicht er mit den Werten, die er vor einem Jahr gemessen hat.
Massiver Rückgang im Hitzesommer 2018
Eine Überschlagsrechnung ergibt: An dieser Stelle sind in einem Jahr 136 Zentimeter Eis verschwunden – viel, wenn man bedenkt, dass unter unseren Füssen nur noch etwa zwei weitere Meter Eis liegen.
Aber verglichen mit dem Hitzesommer 2018 ist es wenig: Damals verschwanden hier drei Meter Eis. Diesen Frühling lag noch lange viel Schnee auf dem Gletscher, das schützte ihn etwas vor den Hitzewellen, die es auch in diesem Jahr gegeben hat, erklärt Matthias Huss.
Doch die Atempause ändert nichts mehr: Seit 2018 ist das Schicksal des Pizolgletschers endgültig besiegelt. Davor schmolz er zwar stetig, aber im letzten Jahr zerfiel er förmlich in einzelne Stücke. Das Ende ist nah.
Das bestätigen die Messungen bei den weiteren fünf Messpegeln. Die Folge: Der Pizolgletscher muss als erster aus der Messliste des Bundes gestrichen werden.
Die Berge verändern sich
Achtzig Prozent aller Gletscher in der Schweiz sind in derselben Grössenklasse wie der Pizol. In den nächsten Jahren werden viele sein Schicksal teilen – die Berge werden anders aussehen als heute.
Für den 22. September haben Umweltorganisationen zu einer Gedenkfeier für den Pizolgletscher aufgerufen. Als Wissenschaftler sieht Matthias Huss das Verschwinden der Gletscher nüchtern, sagt er. Aber: «Ich bin natürlich schon traurig, wenn die Gletscher verschwinden.» Er habe immer doch das Bild im Kopf, als er als Kind zum ersten Mal auf einem grossen Gletscher gestanden sei.
Er blickt ein letztes Mal auf die Reste des Pizols, schultert den Rucksack und steigt ab ins Tal.