Martina arbeitet als HR-Leiterin, viel und intensiv. Als sie die Schrift am Bildschirm immer grösser einstellen muss, geht sie zum Optiker. Der verweist sie an einen Augenarzt, dieser wiederum in die Uniklinik. Dann folgt die Diagnose: Morbus Stargardt.
Von 60 auf 2 Prozent in einem Jahr
Zum Zeitpunkt der Diagnose hat Martina eine Sehfähigkeit von rund 60 Prozent. «Klar, das ist nicht sehr viel. Aber es ging alles noch» – sogar Autofahren kann die 46-Jährige damals.
Es war, als würden die Ärzte gar nicht über mich sprechen.
Die Diagnose ist für Martina surreal, «als ob die Ärzte gar nicht über mich sprechen würden». Behandlungsmöglichkeiten, die das Sehvermögen verbessern würden, gibt es keine. Darum hofft Martina, dass die Verschlechterung der Sehfähigkeit nur langsam voranschreitet und die Medizin in der Zwischenzeit Fortschritte macht.
Doch es geht schnell: In einem Jahr verliert sie den grössten Teil ihrer Sehkraft, von 60 auf 2 Prozent.
Wie sehen zwei Prozent Sehkraft aus?
Wenn Martina beschreibt, was sie sieht, spricht sie von «Schemen». Sie erkennt Umrisse und Kontraste. So helfen ihr zum Beispiel kontrastreiche Farben, den Übergang von einem T-Shirt zur Haut zu erkennen.
Gesichter jedoch sind verschwommen. Das ist etwas, das Martina auch heute noch schmerzt: «Es fehlt mir, mal ein freundliches Gesicht, ein Lächeln, einen aufmunternden Blick zu sehen.»
Sehverlust «wie Folter»
Besonders schlimm ist es, das Gesicht ihres Mannes nicht mehr zu sehen. Eines Tages sitzt sie ihm gegenüber und realisiert, dass sein Gesicht verschwommen ist – «und dass ich es auch nie wieder sehen werde.» Das Jahr, in dem sie den grössten Teil ihrer Sehkraft verliert, bezeichnet Martina als «Folter».
Erblinden ist ein Verlustthema. Es tut unglaublich weh, eine Fähigkeit, die man hatte, zu verlieren.
Manchmal stellt sich Martina die Frage, ob es schlimmer ist, zu erblinden oder von Geburt an blind zu sein. Schrittweise zu erblinden, sei ein Verlustthema und ein Trauerprozess, erklärt sie. «Es tut unglaublich weh, eine Fähigkeit, die man hatte, zu verlieren.»
Dankbarkeit überwiegt
Martina zeigt sich aber auch dankbar – nämlich, dass sie 46 Jahre lang gut sehen konnte. «Ich konnte so viele Bilder in meinem Kopf sammeln – davon profitiere ich auch heute noch.»
Heute kommt sie mit ihren zwei Prozent Sehvermögen gut zurecht. Nach mehreren Monaten, in denen sie vieles verarbeiten und neu lernen muss, findet sie auch den Weg zurück in ihren Job wieder.
Technische und menschliche Hilfen
Martinas wichtigstes Hilfsmittel: ihr Smartphone. Zum Beispiel macht sie Fotos von Gegenständen und lässt sich dann von der Voice-over-Funktion vorlesen, was darauf zu sehen ist. Das hilft, wenn sie beispielsweise einen Namen auf einer Türklingel sucht.
Und auch ihr Mann Martin ist eine grosse Stütze, ohne dass sich Martina wie eine Last vorkommt: «Er hilft mir natürlich viel, aber das Schöne ist: Es fühlt sich nicht so an.»
Blind von Zürich ans Meer wandern
Mit ihm zusammen wagt sie denn auch zwei Jahre nach dem Wiedereinstieg in den Job ein nächstes Abenteuer. Die beiden wandern während drei Monaten von Zürich bis nach Triest. «Die Wanderung war unglaublich wichtig für mich», sagt Martina. Und für die Beziehung: «Dieser Schicksalsschlag ist nicht nur mir passiert, sondern auch meinem Partner.»
Es ist wesentlich anstrengender für mich, sehbehindert durch Zürich zu laufen, als wandern zu gehen.
Martina fühlt beim Wandern weniger Einschränkung, als wenn sie in der Stadt unterwegs ist. Denn in der Natur gibt es weniger Verkehr und weniger Durcheinander.
Und sowieso: Den Fokus legt Martina auf die zwei Prozent Sehvermögen, die sie noch hat. «Die helfen enorm.»
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