Susanne Brunner berichtet seit 2018 aus dem Nahen Osten, auch aus dem Irak. Einer ihrer Kontakte vor Ort ist ein junger Mann namens Ali, der eigentlich nicht so heisst und ihr auch nach mehr als einem Jahr Kontakt seinen richtigen Namen noch nicht nennen möchte. Sie trifft ihn am Rande des Tahrir-Platzes in Bagdad, wo Demonstranten gegen die ausufernde Korruption und für bessere Lebensbedingungen demonstrieren. Auf dem Höhepunkt der Proteste sind Hunderttausende auf der Strasse. Die Sicherheitskräfte gehen mit Gewalt gegen sie vor. Mindestens 600 werden getötet, 15'000 verletzt.
Am Tag, an dem Susanne Brunner Ali zum ersten Mal begegnet, ist sie in Begleitung eines Übersetzers frühmorgens auf dem Tahrir-Platz, weil später, wenn sich der Platz füllt, die Heckenschützen unerkannt auf Demonstranten und Medienleute schiessen. Während sie in einer Bar am Rande des Platzes auf türkischen Kaffee wartet, kommt sie mit Ali ins Gespräch. Er ist einer der Protestierenden, kein Anführer, kein Wortführer.
Aufwändig recherchierte Geschichten, die in der Schweiz zu reden geben. In News Plus Hintergründe gibt es die ganze Story.
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Die Situation im Irak ist damals sehr gefährlich. Am 3. Januar 2020 tötete eine US-amerikanische Drohne den iranischen General Qassem Soleimani in Bagdad. Und die DemonstrantInnen sind plötzlich im Visier der paramilitärischen Milizen. Nachts hört Susanne Brunner im Hotel immer wieder Schüsse.
Der Irak hätte so viel Geld durch Öl, doch die Politik schafft es nicht einmal, daraus eine anständige Grundversorgung zur Verfügung zu stellen: Wasser, Strom, gute Schulen für alle.
Interview ohne Privatsphäre
Ali und Susanne Brunner trinken also türkischen Kaffee und reden über die Situation im Irak. Über Korruption, Armut, Krieg. Eine Frau, die einfach so mit einem wildfremden Mann redet? Ungewöhnlich. Die Frau ist mit ihrem SRF-Mikrofon auch noch klar als Journalistin erkennbar. Das könnte andere Gäste zum Lauschen einladen, eventuell auch solche, die als Spitzel für die paramilitäriischen Milizen tätig sind.
Es ist eine Zeit, in der Protestierende spurlos verschwinden. Fotos von Ali sind auf keinen Fall möglich. Er sagt: «Seitdem ich geboren wurde, habe ich nie eine gute Zeit erlebt: keine einzige lebende Generation im Irak hat einen guten Irak erlebt.» Er ist Ingenieur, mehr weiss sie nicht über ihn. Auch aus Angst um seine Familie vertraut er einer Schweizer Journalistin und ihrem irakischen Übersetzer nicht einfach so.
Wenn die Reporterin um ihr Leben rennt
Später, wieder auf dem Tahrir-Platz, kommen fremde Männer aus allen Richtungen auf Susanne Brunner und ihren Übersetzer zu. Die Situation wird brenzlig, doch mit einem Tuk-Tuk gelingt es den beiden zu entkommen. «Es war knapp, sie waren sehr nahe», erzählt die Korrespondentin im Gespräch. Einige der Männer waren ihr schon im Vorfeld aufgefallen. Sie waren ihr über den Tahrir-Platz gefolgt, hatten beobachtet, wie sie Interviews machte.
Sie fragt sich zuerst, ob die Männer wegen ihres Gesprächs mit Ali hinter ihr her waren. Später aber, zurück im Hotel, merkt sie: Auf einem Foto, das sie auf dem Platz gemacht hat, wird im Hintergrund ein schwer verletzter oder bereits toter junger Mann davongetragen. Ob sie verfolgt wurde, weil sie im falschen Moment ein Foto gemacht hat, weiss sie bis heute nicht. «Ich habe nicht sofort gemerkt, was ich da fotografiert habe», sagt sie. «Aber möglicherweise hat jemand gesehen, dass ich die Szene fotografiert habe, möglicherweise ist auch der Täter auf dem Foto».
Ist man als Korrespondentin auf so eine Situation vorbereitet? Susanne Brunner meint: «Ganz ehrlich: auf so etwas ist man nie richtig vorbereitet.» Sie habe zwar vor Antritt ihrer Korrespondentinnenstelle einen Kurs bei der deutschen Bundeswehr besucht. Trainiert werde da, wie man sich in Risikogebieten richtig verhält. «Aber nach einer Woche hat man natürlich nicht mehr als eine Ahnung.»
Später will Ali sie wieder treffen, da er in der Bar am Tahrir-Platz nicht frei reden konnte. Doch ihrem Übersetzer vertraut er nicht. Alleine will sich Susanne Brunner dann aber auch nicht mit ihm treffen. «Es könnte ja eine Falle sein», meint sie. Per E-Mail bleiben die beiden aber in Kontakt. Was hat Ali davon? «Etwas vom schwierigsten im Nahen Osten ist dieses Gefühl, dass es der ganzen Welt egal ist, was mit einem passiert», betont Susanne Brunner. «Wenn dann jemand aus dem Westen, eine Journalistin, zuhört, die die Geschichte vielleicht ein die Welt trägt, macht das eigene Leben plötzlich ein bisschen mehr Sinn. Es gibt Hoffnung, dass man vielleicht gehört wird.»
Wenn der Informant plötzlich verschwindet
Nach ein paar Monaten Kontakt vertraut Ali Susanne Brunner genug, um ihr seine Handynummer zu geben. Via Whatsapp und E-Mail hält sie den Kontakt mit ihm aufrecht. Manchmal hört sie über Monate nichts von ihm, dann wieder die Nachricht: «Das Chaos in Bagdad wird mit jedem Tag grösser. Die Milizen werden mit jedem Tag stärker. Ich hoffe, ich überlebe dieses Jahr.» Mittlerweile hat Ali wieder einen Job gefunden, doch gehört hat sie seit Monaten nichts mehr von ihm. Am 21. Januar dieses Jahres ereignete sich in Bagdad ein Selbstmordanschlag. Kaum hörte sie diese Nachricht, fragte Susanne Brunner Ali via Whatsapp, ob bei ihm alles in Ordnung sei. Doch noch immer zeigt es nicht mal an, dass er die Nachricht gelesen habe. Sie weiss nicht, ob Ali noch lebt.
Alle sechs Episoden der Serie «Aufstand!» finden Sie im Podcast-Kanal «Hotspot» von SRF. Im Gespräch mit Roger Brändlin erzählen sechs Korrespondentinnen und Korrespondenten von Radio SRF aus ihrem Alltag: Nahost-Korrespondentin Susanne Brunner, Osteuropa-Korrespondent Roman Fillinger, Ostasien-Korrespondent Martin Aldrovandi, Afrika-Korrespondent Samuel Burri, USA-Korrespondentin Isabelle Jacobi und Russland-Korrespondent David Nauer.