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Nach den Abstimmungen Wieso fallen grosse Vorlagen an der Urne durch, Claude Longchamp?

Die letzte erfolgreiche AHV-Revision liegt fast 30 Jahre zurück. Das Rahmenabkommen mit der EU hat der Bundesrat vor ein paar Wochen beerdigt. Und 13. Juni haben die Stimmberechtigten das CO2-Gesetz versenkt – ein von Bundesrat und Parlament mühsam erarbeiteter Kompromiss. Wichtige Reformen stocken, Entscheide werden vertagt. Wieso das so ist, erklärt Politologe Claude Longchamp.

Claude Longchamp

Historiker und Politikwissenschaftler

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Claude Longchamp ist Historiker und Politikwissenschaftler. Bis April 2017 war er Geschäftsführer des Forschungsinstituts gfs.bern. Er war viele Jahre als Experte beim Schweizer Fernsehen für Abstimmungen im Einsatz.

SRF News: Haben es richtungsweisende Vorlagen an der Urne schwerer als früher?

Claude Longchamp: Sie hatten es nie leicht. Aber es gibt immer eine Möglichkeit: Wenn die übergeordnete Botschaft die Menschen überzeugt, weshalb es einen Richtungsentscheid braucht, sind wir in der Lage, Mehrheiten zu finden. Es zeigt sich immer wieder der gleiche Mechanismus: Es kommen Einwände im Detail und das Schlimmste ist, wenn sich diese Einwände summieren. Das kann des Hasen Tod sein – wie etwa beim CO2-Gesetz.

Kompromisse zu finden, scheint schwieriger zu werden.

In der Schweizer Politik ist ein skeptischer Grundton entstanden. Dieser lässt sich auch durch Corona begründen – die vergangenen 15 Monate waren für viele Leute ein grosser Stress. Das hat dazu geführt, dass wir ein bisschen skeptisch geworden sind gegenüber grossen staatlichen Projekten und der Zukunft.

Und wir sind auch ein bisschen skeptischer geworden gegenüber der Wissenschaftskommunikation. Wahrscheinlich fehlt heute der Glaube an eine Perspektive. Da kommen dann Details hervor, die den Ausschlag zu einem Nein geben.

Ist man auch gegenüber Politikerinnen und Politikern skeptischer geworden?

Von einem eigentlichen Misstrauen würde ich in der Schweiz nicht sprechen. Im internationalen Vergleich haben wir immer noch sensationell hohe Werte mit rund 60 Prozent Vertrauen in die Politik, während diese Zahl in anderen Ländern bis zu 30 Prozentpunkte tiefer ist. Aber wir sind wahrscheinlich vorsichtiger geworden gegenüber Politikern oder ihren Leistungen.

Von einem eigentlichen Misstrauen würde ich in der Schweiz nicht sprechen.

Auch die Ergebnisse vom vergangenen Abstimmungssonntag zeigen, dass im Voralpen-Gebiet eine gewisse Ernüchterung gegenüber der Bundespolitik eingetreten ist.

Hat auch die Haltung zugenommen, dass die Schweiz immer als gutes Beispiel vorangehen muss, während andere Länder machen können, was sie wollen?

Dieses «die Faust im Sack machen» hat zweifelsfrei zugenommen. Doch gerade in der Klimapolitik hatte ich am Abstimmungssonntag nicht den Eindruck, dass wir vorangehen würden. Wir haben einen Nachholbedarf, andere vergleichbare Länder wie Norwegen sind in der Klimapolitik viel weiter. Dennoch haben gewisse Leute wohl aus Frust beschlossen, fünfmal Nein zu stimmen. Das ist ein interessantes, neues Phänomen.

Selten war die Politik so im Zentrum der Aufmerksamkeit wie in den letzten 15 Monaten.

Dieser Verdruss gegenüber dem Staat hat mit der Corona-Politik zu tun. Selten war der Staat in der Schweiz so aktiv wie in den letzten 15 Monaten. Selten war die Politik so im Zentrum der Aufmerksamkeit. Und nicht immer waren der Staat und die Politiker mit ihrer Corona-Politik erfolgreich.

Ist diese Bürger-Skepsis ein Grund zur Sorge?

Es ist eine momentane Befindlichkeit. Es ist nicht das erste Mal, dass wir das beobachten. So wurde etwa 1994 nach dem Nein zum EWR die Internationalisierung der Politik infrage gestellt. 2004 hat der Bundesrat achtmal in Serie Abstimmungen verloren – das war einmalig in der Schweizer Politik.

Es ist möglich, dass die Skepsis wieder verschwindet. Das hängt davon ab, ob bei den Stimmberechtigten wieder eine optimistischere Zukunftsperspektive einkehrt. Das wiederum ist von der Wirtschaftsentwicklung abhängig.

Das Gespräch führte Beat Soltermann.

Echo der Zeit, 20.06.2021, 18:00 Uhr ; 

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