68 Grad nördlich, 80 Grad westlich. Früher Morgen. Im Westen sind Hügelkuppen von Baffin Island zu erkennen. Der leuchtend hellrot bemalte Eisbrecher «Pierre Radisson» der kanadischen Küstenwache pflügt sich im Schritttempo durch bloss millimeterdünnes Eis. Es hat sich über Nacht gebildet.
Nur zwei der sechs mächtigen Turbinen laufen. In einer Stunde ist die hauchdünne Eisschicht wieder weggetaut. Die Wetterprognose verheisst einen milden Augusttag für die kanadische Arktis.
Arktische Seewege werden rege benutzt
Noch vor zwei Monaten sah es hier anders aus. Bitterkalt. Dickes Eis rund um die «Pierre Radisson». Der bullige, 98 Meter Eisbrecher war gefordert. Dank des speziell konstruierten Bugs, der das Eis quasi aufschneidet und die Riesenbrocken dann unter dem Schiff wegdrückt, kam man trotzdem voran, erzählt der Chefingenieur Richard Bourdeau.
Doch immer öfter und Jahr für Jahr immer länger fährt die «Pierre Radisson» durch offenes, eisfreies Meer. Für die kanadische Küstenwache bedeutet das nicht weniger, sondern viel mehr Arbeit.
Immer mehr Schiffe benutzen die arktischen Seewege, immer mehr Menschen leben in der Arktis, wie Michael Gardiner, der Vize-Chef der kanadischen Küstenwache erklärt. Immer mehr Fischerei, Handel, Öl- und Gasexploration, Tourismus sowie Bergbau sei zu beobachten. Und damit auch immer mehr Risiken
Gardiner berichtet von einem Unfall mit konzentriertem Dünger, der auslief. Ein andermal braucht ein havarierter Kreuzfahrtdampfer Hilfe. Oder Menschen müssen aus einer arktischen Siedlung oder aus einem Explorationslager gerettet werden.
Unberechenbares Wetter
Das Wetter in der Arktis kann sich schlagartig ändern, weiss Michel Bourdeau, der Kapitän der «Pierre Radisson» mit drei Jahrzehnten Erfahrung. Nebel etwa kommt binnen Stunden auf. Oder bis zu zehn Meter hohe Wellen, sobald der Wind zulegt.
Und das in einer Weltgegend, wo Navigationshilfen weitgehend fehlen, wo es kaum sichere Häfen gibt, wo das nächste Spital tausende von Kilometern entfernt ist.
Zwar sei Kanadas Arktis bisher vor einer richtig grossen Umweltkatastrophe verschont geblieben, sagt Gary Linsey, der Umweltfachmann an Bord. Doch die Gefahr steigt, je intensiver die Arktis genutzt wird. Und dass sie mehr genutzt wird, ist klar, ist auch gewollt von der kanadischen Regierung, macht Generalstabschef Walter Natyncyk klar. Der Ressourcenreichtum des Nordens verlocke enorm. Und nun auf einmal würden sie zugänglich – ganz anders als zu Zeiten, als er ein junger Soldat war und er keinen Tag wärmer als minus fünfzig Grad erlebte.
Eisexpertin an Bord
Die «Pierre Radisson» und ihre Schwesterschiffe bei der Küstenwache sind heute Allzweckplattformen für die Sicherung der Arktis. Sie helfen bei der Navigation, retten Menschen, bekämpfen Umweltschäden, eskortieren Schiffe, kartografieren die riesige Region, liefern Material und Essen in entlegene, oft winzige Siedlungen.
Sogar eine Eisexpertin gibt es an Bord. Die Erkenntnisse von Véronique Plain sind nicht zuletzt für den Kapitän der «Pierre Radisson» entscheidend. Besonders gefährlich, weil extrem hart sei das alte, das mehrjährige Eis. Allerdings gibt es davon immer weniger. Obschon die arktische Eisbedeckung nicht jedes Jahr gleichermassen abnimmt und 2013 sogar wieder etwas zulegte: Der Trend ist so klar, dass selbst der erprobte Seebär Michel Bourdeau staunt.
Sogar angeln kann man an diesem milden Augusttag vom Beiboot aus. Binnen Sekunden beisst ein fetter Lachs an und wird ausgenommen. Eine geschätzte kulinarische Bereicherung auf der viele Monate langen und jedes Jahr längeren Patrouillenfahrt der «Pierre Radisson». Am Abend klimpert ein Soldat im Essraum auf seiner Gitarre. Man vermutet etwas Heimweh. Erst Anfang Dezember kehrt der Eisbrecher in seinen Heimathafen Québec zurück. Dann wird es doch noch ruhig in der Arktis. Aber nur mehr für wenige Monate.