Bis 2015 lebte er in Russland, dann machten die verschärften Mediengesetze ihm die Arbeit unmöglich. Im «Club» spricht der Autor und Journalist Vladimir Esipov über die Pressefreiheit in seiner Heimat, den Tod von Alexej Nawalny und die Hoffnungen auf ein freies Russland.
SRF News: Mitte März erscheint Ihr Buch «Die russische Tragödie: Wie meine Heimat zum Feind der Freiheit wurde». Ihnen ist vor allem der Untertitel wichtig. Warum?
Vladimir Esipov: Ich möchte versuchen zu erklären, was in meinem Land in den letzten 30 Jahren passiert ist. Die Freiheit, die wir Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre erreichten, haben wir Schritt für Schritt aufgegeben und sie gegen Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Konsum eingetauscht.
Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass das passiert.
Auch in diesem schrecklichen, absurden Krieg, den Russland seit zwei Jahren gegen die Ukraine führt, geht es meiner Meinung nach um nichts anderes: Wie gehen wir als Gesellschaft, als Land mit der Freiheit, dem Wunsch nach Freiheit um?
Letzte Woche ist Alexej Nawalny, der härteste Kremlkritiker, in einem Straflager umgekommen. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie diese Nachricht gehört haben?
Die Nachricht hat mich sehr erschrocken, wie uns alle. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass das passiert. In Berlin kursierte seit etwa einem Jahr das Gerücht, dass es Verhandlungen zwischen Deutschland, Russland und den USA gebe, dass Nawalny im Austausch gegen den sogenannten «Tiergartenmörder» – einen russischen Auftragskiller, der in Deutschland eine lebenslange Strafe absitzt – ausgeliefert werden könnte. Ich dachte, dass es eher in diese Richtung gehen würde. Doch ich lag falsch.
Nawalnys Frau, Julia Nawalnaja, sagt, dass das Regime nicht nur ihren Mann getötet habe, sondern auch die Hoffnung auf eine andere Zukunft, ein freies Russland. Sehen Sie das auch so?
Ja und Nein. Ja, weil Nawalny viele Hoffnungen auf sich gezogen hat. Gerade junge Menschen haben sehr vieles auf ihn projiziert, was er vielleicht auch nicht unbedingt war. Aber diese Hoffnung auf etwas Anderes, die hat er schon sehr gut verkörpert, allein durch seine Erscheinung, seine Präsenz und Rhetorik.
Visionen zu haben, ist im Moment sehr schwierig.
Aber ich glaube doch auch, dass sich in einem Land mit 147 Millionen Menschen jemand finden lässt, der ihn vielleicht nicht ersetzt, aber diese Hoffnungen ebenfalls verkörpern könnte.
Wie sieht es in Ihren Augen denn aus, dieses freie Russland?
Visionen zu haben, ist im Moment sehr schwierig. Ich wünsche mir in erster Linie ein friedliches Russland und dass dieser Wahnsinn des Krieges aufhört.
Sie waren Chefredaktor der russischen Ausgabe des Magazins «Geo». 2015 haben Sie das Land verlassen, weil Sie Ihre Arbeit nicht mehr machen konnten. Wie haben Sie die Beschneidung der Pressefreiheit erlebt?
2006 stand ich am offenen Grab der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, die ich persönlich gekannt hatte. Das war für mich der Abschied von der Pressefreiheit. Und der Moment, als ich mich fragte: Soll ich das Land verlassen? Ich entschied, so lange zu bleiben, wie es geht. Bis 2015 habe ich getan, was ich tun konnte.
Empfinden Sie Russland immer noch als Ihre Heimat?
Ja. Es ist das Land, in dem meine Eltern begraben sind. Es ist das Land, das mich letztlich zu dem gemacht hat, was ich heute bin.
Das Gespräch führte Barbara Lüthi.