Junge Männer aus Eritrea zerschneiden ihre Hände am Stacheldraht von Calais, andere geraten unter Eisenbahnräder. Doch die britischen und französischen Innenminister beteuern, die Szenen im Hafengelände von Calais seien kein französisch-britisches Problem, sondern eine dringende Aufgabe für die internationale Gemeinschaft und namentlich die Europäische Union.
Die Briten berufen sich auf die Dubliner Konvention, die Migranten verpflichtet, ihr Asylgesuch in jenem europäischen Land einzureichen, auf das sie ihren Fuss als erstes setzen. Ein kurzer Blick auf die Landkarte genügt für den Nachweis, dass das Mittelmeer keine britische Küste erreicht.
Widerstand gegen Rettungs-Mission
Die britische Regierung hat sich geweigert, einen Anteil der in Italien und Griechenland angekommenen Flüchtlinge aufzunehmen. Als die italienische Marine im letzten Herbst ihre Rettungsaktionen im Mittelmeer einstellte, wandte sich London energisch gegen eine entsprechende Folge-Mission der EU – mit der Begründung, der humanitäre Einsatz erhöhe den Anreiz für Flüchtlinge.
Der Blick auf die nackten Zahlen ernüchtert: Letztes Jahr überquerten über 200'000 Migranten das Mittelmeer. In den menschenunwürdigen Zeltlagern von Calais haben sich höchstens 5000 zu allem entschlossene Flüchtlinge angestaut.
Sie wollen um jeden Preis nach England. England schickt raffiniertere Zäune mit Rasierklingen und zusätzliche Spürhunde nach Frankreich. Britische Medien berichten über eine alarmierende Zunahme von festgenommenen illegalen Einwanderern – dabei liesse sich der Anstieg auch in dreistelligen Zahlen ausdrücken.
Im ersten Quartal dieses Jahres wurden gerade mal vier Prozent aller Asylgesuche innerhalb der Europäischen Union in Grossbritannien eingereicht – weit weniger als in Ungarn, Österreich oder Schweden.
Britischer Krämergeist
Europa endet am Ärmelkanal. Aus britischer Sicht wurzelt der Migrantenstau in Calais in französischem Schlendrian oder gar gallischer Perfidie. Derweil ist der Kanaltunnel wegen der häufigen Unterbrechungen verstopft, auf englischer Seite stauen sich über 6000 Lastwagen.
Erst wenn die Grafschaft Kent sich in einen Fuhrpark verwandelt und der Tourismus an der Kanalküste stirbt, entdeckt die britische Regierung die Segnungen der europäischen Solidarität. Die zeitweilige britische Labour-Chefin Harriet Harmann verstieg sich gestern sogar zur Forderung, die französische Regierung möge die geplagten britischen Spediteure finanziell entschädigen. Der britische Krämergeist erfreut sich bester Gesundheit, während europäische oder gar humanitäre Ideale verkümmern.