Viele Menschen empfinden den islamistischen Terror als grössere Gefahr als den globalen Klimawandel. Zu diesem Ergebnis kommt eine weltweite Umfrage des US-Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center.
Ein zweifelhafter Erfolg für die Dschihadisten – den Richard Barrett relativiert: «Die Ängste sind nicht gerechtfertigt.» Barrett war Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes MI-6 und war verantwortlich für die Task Force Terrorbekämpfung bei den Vereinten Nationen. Daneben arbeitete er vor und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 für die US-Regierung.
Natürlich würden terroristische Anschläge einen unmittelbareren Eindruck hinterlassen als andere Gefahren, sagt Barrett: «Aber die Zahl der Anschläge in Europa ist nicht ‹schrecklich› hoch.»
Die horrenden Opferzahlen in Ländern wie dem Jemen, Irak und Afghanistan zeigten, dass gerade Westeuropa lange nicht so unter dem Terror leidet wie andere Weltregionen. Barrett plädiert deshalb für Augenmass:
Ich verstehe natürlich, dass die Medien in europäischen Ländern viel darüber berichten. Aber es besteht die Tendenz, die Gefahr grösser darzustellen, als sie tatsächlich ist.
Kommt hinzu: In den letzten Monaten ist das selbsterklärte «Kalifat» des Islamischen Staates (IS) implodiert, die stolzen Bannerträger des Dschihad sind zu Wüstenkriegern mutiert. Doch gerade das bereitet Sicherheitsexperten Sorgen: Sie fürchten, dass die tausenden europäischen Dschihad-Touristen, die einst euphorisch ins «Kalifat» zogen, nun desillusioniert in ihre Heimat zurückkehren. Samt dem Terrorhandwerk, das sie beim IS erlernt haben.
In einem aktuellen Bericht teilt Barrett diese Befürchtungen. Die Anziehungskraft des IS schwinde nicht wegen der Territorialverluste: «Es besteht kaum Zweifel, dass die Gruppe in bestehender oder ähnlicher Form weiterexistieren wird. Die Bedingungen, die den IS gross werden liessen, bestehen weiter.»
Die grösste Gefahr sieht der britische Diplomat aber nicht in den desillusionierten Rückkehrern: «Sicher gibt es da Leute, mit denen wir uns beschäftigen sollten. Mich beunruhigen aber eher jene, die zum IS gehen wollten und es nicht schafften. Sie haben einen Traum, der nicht in Erfüllung ging.»
Barrett glaubt, dass die Zurückgebliebenen motivierter sind, dem IS zu helfen, als diejenigen, deren zweifelhafter Traum in den Trümmern des «Kalifats» endete.
Hunderte Dschihad-Rückkehrer in Europa?
In seinem Bericht «Beyond the Caliphate: Foreign Fighters and the Threat of Returnees» rechnet Barrett mit mindestens 5600 IS-Kämpfern aus 33 Ländern, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Insgesamt hätten sich über 40'000 Ausländer dem IS in Irak und Syrien angeschlossen, aus 110 Ländern. Schwer zu beziffern ist allerdings, wie viele von ihnen überlebt haben oder zurückkehren wollen. |
Leben mit dem Restrisiko
Die Frage bleibt: Sind die europäischen Sicherheitsbehörden gewappnet, um der Gefahr zu begegnen? Immerhin: Der aktuelle Terrorismus-Index bilanziert, dass viele potenziell grosse Anschläge zuletzt verhindert werden konnten. Anschläge mit einfachen Mitteln wie Fahrzeugen oder jedermann zugänglichen Waffen seien allerdings auf dem Vormarsch.
«Wir sind insofern vorbereitet, dass wir das Risiko kennen», sagt Barrett. Die erhöhten Sicherheitsmassnahmen spürten etwa Museumsbesucher in den europäischen Metropolen, wo oft rigorose Eingangskontrollen durchgeführt werden. Das könne abschreckend wirken, so Barrett. Aber:
Wenn Sie an all die sogenannten weichen Ziele denken, Bahnhöfe etwa oder öffentliche Plätze, dann erkennen Sie, dass es unmöglich ist, alle Menschen wirklich zu schützen.
Schliesslich könnten auch nicht alle potenziellen Terroristen flächendeckend überwacht werden. «Und es gibt sicher Leute, die gefährlich sind und von denen wir nichts wissen», sagt der Terrorexperte.
Barrett glaubt nicht daran, dass der Mittlere Osten zur Ruhe kommt, nur weil IS-Kämpfer aus den Städten im Irak und Syrien verschwinden. Genau so wenig glaubt er daran, dass die Ideologie aus sozialen Brennpunkten in europäischen Städten verschwindet, weil einzelne «Gefährder» überwacht werden.
Die Regierungen seien in der Pflicht, die Menschen zu schützen, aber:
Die Antwort muss man auf Ebene der Gesellschaft suchen. Es sind die Leute in ihren Quartieren, die am Besten in der Lage sind, Beobachtungen zu machen.
Die Wurzel des Übels
Radikalisierte herauszufiltern gelinge in gewissen Ländern besser als in anderen, sagt Barrett: „Wo sich die Leute, die in der Umgebung radikalisierter Menschen leben, selbst an den Rand gedrängt und ausgeschlossen fühlen, wird nichts aus der Überwachung anderer.»
Mangelnde Chancen auf sozialen Aufstieg, alltägliche Diskriminierung oder latenter Rassismus stünden oft am Anfang der Radikalisierung: «Viele, die zum IS gingen, fühlten sich dort, wo sie lebten, chancenlos und sahen keine Möglichkeiten, sich zu verwirklichen.»
Die schrecklichen Kinder des Kalifats
Ein Teil der Rückkehrer aus Irak und Syrien lässt sich nur schwer quantifizieren: Frauen und Kinder, die über Jahre hinweg indoktriniert wurden. Gerade letztere bereiten Barrett Sorgen: «Ab neun Jahren kamen die Kinder in militärische Schulungen und sollten sich als Teil einer Kriegsgemeinschaft sehen. Oft wurden sie in den Krieg geschickt, bevor sie überhaupt junge Männer waren.» Sie umzuerziehen und in die Gesellschaft zu integrieren, werde sehr schwierig.
Barrett hat noch keine verlässlichen Zahlen zu den Kindersoldaten des IS. Er rechnet aber mit mehreren Hundert. Viele von ihnen dürften durch eine Kindheit inmitten von Krieg und Terror traumatisiert sein, so Barrett: «Sie brauchen Therapien, die nicht nach ein paar Tagen oder Monaten abgeschlossen sind.»
Abschliessend plädiert Barrett dafür, alle Fälle, auch diejenigen von zurückgekehrten Frauen, einzeln zu betrachten: «Man sollte die Leute nicht vorverurteilen und in ihnen eine Langzeitbedrohung sehen.» Motivation und Erfahrung könnten sich im Einzelfall stark unterscheiden, wobei diejenigen, die Verbrechen begangen hätten, strafrechtlich verfolgt werden sollten.
«Aber man muss auch darauf achten, dass die Justiz ihnen auch hilft, in unsere Gesellschaft zurückzukehren, sich als Teil dieser Gesellschaft fühlen zu können.» Das sei nicht immer einfach. Aber es müsse unser Ziel sein.
Letzte IS-Hochburg im Irak ist gefallen
Die irakische Armee hat nach eigenen Angaben die letzte von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kontrollierte Stadt im Land zurückerobert. Regierungstruppen und paramilitärische Einheiten hätten demnach ganz Rawa befreit und auf allen öffentlichen Gebäuden die irakische Flagge gehisst, erklärte General Abdelamir Jaralla. Der Einsatz in der Wüstenprovinz Anbar hatte erst am Morgen begonnen. Die Kleinstadt liegt nahe der syrischen Grenze. |