Das Wichtigste in Kürze:
- Die deutschen Sozialdemokraten haben in Bonn an einem Sonderparteitag den Weg frei gemacht für Verhandlungen über eine neue grosse Koalition in Berlin.
- Die gesamte SPD-Spitze um Parteichef Martin Schulz hatte für die Verhandlungen geworben, an der Basis gab es aber erheblichen Widerstand.
- Gegen eine neue grosse Koalition («GroKo») hatte sich vor allem der Chef der Jungsozialisten Kevin Kühnert positioniert.
Vier Monate nach der Bundestagswahl hat die SPD mit knapper Mehrheit den Weg zu Koalitionsverhandlungen mit der Union frei gemacht. Nach einer konfrontativen und emotionsgeladenen Debatte stimmten auf dem Parteitag in Bonn 56,4 Prozent von 642 Delegierten und Vorstandsmitgliedern dafür.
Die Verhandlungen über eine Neuauflage der grossen Koalition können damit in den nächsten Tagen beginnen und im besten Fall bereits im Februar abgeschlossen werden. Danach muss aber noch eine hohe Hürde überwunden werden: Die mehr als 440'000 SPD-Mitglieder stimmen über den Koalitionsvertrag ab und haben damit das letzte Wort.
Kanzlerin Angela Merkel hat sich zufrieden mit dem knappen Ja des SPD-Sonderparteitags zu Koalitionsverhandlungen mit der Union geäussert. Die Union strebe eine stabile Regierung an, bekräftigte die CDU-Vorsitzende am Sonntagabend vor Beratungen der Spitzengremien ihrer Partei in Berlin. Eine Vielzahl von Fragen sei noch zu klären. Es gehe jetzt darum, möglichst bald damit zu starten.
Ja, man muss nicht um jeden Preis regieren, das ist richtig. Aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.
Parteichef Schulz hatte in einer kämpferischen Rede für eine grosse Koalition geworben. Kurz vor der Abstimmung trat er nochmals ans Rednerpult und sprach von einem «Schlüsselmoment» in der Geschichte der SPD. «Ich glaube, dass die Republik in diesem Moment auf uns schaut», sagte er. «Ja, man muss nicht um jeden Preis regieren, das ist richtig. Aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.»
Heute einmal ein Zwerg sein, um künftig wieder Riesen sein zu können.
Sein schärfster Widersacher Kevin Kühnert hatte an die Genossen appelliert, trotz weitreichender Folgen nicht vor einem Nein zurückzuschrecken. Der Leitspruch des Juso-Chefs für die Abstimmung: «Heute einmal ein Zwerg sein, um künftig wieder Riesen sein zu können.» Damit spielte er auf eine Aussage des CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt an, der den Jusos einen «Zwergenaufstand» vorgeworfen hatte.
Leidenschaftliche Debatte
In der mehr als vierstündigen Debatte sprach sich eine knappe Mehrheit der etwa 50 Redner für eine grosse Koalition aus. Die Befürworter kamen überwiegend aus der Parteiführung. Fast alle prominenten Sozialdemokraten sind für eine grosse Koalition. Die leidenschaftlichste Rede hielt SPD-Fraktionschefin Andrea Nahle.
Die Bürger würden der SPD einen Vogel zeigen, wenn sie sich trotz guter Sondierungsergebnisse für eine Neuwahl entscheide, sagte sie. In den Koalitionsverhandlungen könne noch mehr für die SPD herausgeholt werden. «Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite.»
Nahles bekam für ihre kurze Ansprache deutlich mehr Beifall als Schulz, der eine Stunde redete. «Wir entscheiden heute letztlich auch darüber, welchen Weg unser Land und Europa gehen», sagte der SPD-Vorsitzende. Die Partei müsse «ohne Angst, ohne Scheu» Verantwortung übernehmen. «Ich bin davon überzeugt, dass der mutige Weg der richtige ist.»
Historische Regierungsbildung
Schon jetzt dauert die Regierungsbildung so lange wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Erst scheiterten im November die wochenlangen Sondierungsgespräche über eine Jamaika-Koalition an der FDP.
Zu den Sondierungsgesprächen zwischen Union und SPD kam es erst nach einer Kehrtwende von Schulz, der sich ursprünglich auf die Oppositionsrolle festgelegt hatte. Hätte die SPD mit Nein gestimmt, wären nur eine Minderheitsregierung, eine Rückkehr zu den Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition oder eine Neuwahl möglich gewesen.
Mit dem Votum verhinderten die Delegierten auch den Sturz der SPD in eine tiefe Krise. Für den Fall eines Neins war mit dem Rücktritt von Schulz gerechnet worden. Vor dem Parteitag war die Partei in den Umfragen bis auf 18 Prozent abgesackt.
Noch am Sonntagabend wollten die Spitzengremien von CDU und CSU über das weitere Vorgehen beraten. Das Ja der SPD dürfte auch in der Europäischen Union für ein Aufatmen sorgen. Brüssel und wichtige Partnerländer wie Frankreich warten darauf, dass eine neue deutsche Regierung EU-Reformen mit vorantreibt. Rechnet man den Wahlkampf dazu, agiert die Bundesregierung seit einem Jahr nur noch mit angezogener Handbremse. Seit drei Monaten ist sie nur noch geschäftsführend im Amt.