«Ich würde mein Heimatland nie verlassen», sagt Winta Weldehaimonot. Wir treffen die junge Englischlehrerin an einer Studentenparty in der eritreischen Hauptstadt Asmara. 1500 Absolventinnen und Absolventen verschiedener Fakultäten feiern ausgelassen und herausgeputzt. Viele von ihnen sehen in ihrer Heimat Eritrea eine Zukunftsperspektive.
Ein Land, aus dem laut der UNO pro Monat bis zu 5000 Menschen fliehen, vor allem Junge. «Wir müssen die guten und schlechten Dinge auseinanderhalten», sagt Weldehaimonot. «Früher waren die Löhne tiefer, jetzt ist es besser», findet auch die Physik-Studentin Akberet Andom. Sie sind die jungen Eritreer, die bleiben.
Alles regelt der Staat
Die Studenten erhalten nach ihrer staatlich finanzierten Ausbildung meistens Arbeitsplätze in staatlichen Betrieben oder in einem Ministerium. Die Regierung bestimmt alles, auch die Löhne. «Wenn du keine grossen Ansprüche hast, dann ist es genug. Aber wenn du mehr möchtest, dann reicht es nicht», sagt der Geologe Yemande Wilmichael.
Doch für viele ist es nicht genug, um eine Familie zu gründen und selbstständig zu leben. «Wenn es Jobs hat, will ich in meinem Land bleiben. Wenn nicht, dann…», sagt ein anderer, lacht und schweigt vielsagend. Aber in einem Land, wo der Staat alles bestimmt, wagt kaum einer Kritik am System. «Darauf kann ich dir keine Antwort geben», hören wir immer wieder.
International geächtet
Eritrea war eine italienische Kolonie, später Teil Äthiopiens. In einem 30-jährigen blutigen Krieg erkämpften sich die Eritreer schliesslich 1993 die Unabhängigkeit. Insbesondere die europäische Linke sympathisierte mit den siegreichen Rebellen und hofften auf einen gerechten, demokratischen Staat in Afrika.
Heute ist das Image Eritreas katastrophal. Denn die Unabhängigkeitskämpfer halten sich an der Macht, eine längst versprochene Verfassung ist noch nicht in Kraft. Es gibt keine Wahlen, keine Opposition, keine unabhängige Justiz.
Die UNO kritisierte in verschiedenen Berichten die Menschenrechtslage und auch auf der Liste der Pressefreiheit liegt nur noch Nordkorea hinter Eritrea. Die Folge: Isolation, eine veraltete Infrastruktur, wirtschaftliche Stagnation – und ein wahrer Exodus an jungen Menschen.
Internetcafés und internationale Sender
Von dieser Emigration besonders betroffen ist die Schweiz. Eritrea ist eines der wichtigsten Herkunftsländer. Ein Grossteil der Asylgesuche wurde bis vor kurzem gutgeheissen. Selbst wer einen negativen Asylentscheid erhält, kann nicht zurückgeschickt werden und ist damit «vorläufig aufgenommen».
Hauptgrund für die Flucht aus Eritrea ist der «National Service», ein jahrelanger Dienst am Staat, in Uniform oder für ein staatliches Unternehmen. In der Schweiz ist Eritrea ein heisses politisches Eisen: Die Rechte kritisiert den Bundesrat heftig; es brauche endlich einen vertieften Austausch mit dem Regime in Asmara – und vor allem die Möglichkeit, Eritreer zurückzuschicken.
«Rundschau» in Eritrea
Die «Rundschau» hat Eritrea im Sommer besucht. Oppositionelle Aktivisten behaupten, es sei praktisch vom Rest der Welt abgeschnitten. Doch in den Bars laufen internationale Sender wie BBC World oder Sky News. In der Hauptstadt hat es Internetcafés, wo junge Menschen stundenlang vor ihren Handys sitzen. Die Verbindung ist langsam, aber offen. Private Internetanschlüsse gibt es allerdings kaum, denn sie sind zu teuer.
Trotzdem wollen nicht alle jungen Leute weg. Asmara sei ihre Heimat, ihr Umfeld und deshalb auch ihre Inspirationsquelle. «Du musst bei dir selbst anfangen. Dann kann dich niemand unter Druck setzen, niemand kann dich stoppen, niemand kann deine Gedanken haben», sagt der junge Künstler Biniam Afwerki.
Zwar fehlen den jungen Künstlern die Galerien oder das Material, aber sie suchen ihre Freiräume und glauben an Eigeninitiative. Klar ist aber auch: Der Staat kontrolliert die Kunst. Es gibt Zensur, Nacktbilder oder politische Kritik ist unmöglich. Wer sich daran hält, bleibt unbehelligt. Bei der Frage nach Zensur und Einschränkung fragen die Künstler zurück: «Läuft die Kamera?» Das Regime herrscht still, aber effektiv.
Wer's nicht ins College schafft, muss ins Militär
In der Hauptstadt Asmara konnte sich das Team von SRF frei bewegen, doch ausserhalb der Stadt braucht es eine Bewilligung der Regierung. An einem Checkpoint sind ein einziges Mal junge Leute in Militäruniformen zu sehen. Die eritreische Regierung hat versprochen, den «National Service» für alle zeitlich zu beschränken.
Wie viele junge Eritreer aber trotz den Versprechen der Regierung im Militär bleiben müssen und vor allem wie lange, lässt sich vor Ort nicht recherchieren. Davon betroffen sind alle. Die «Rundschau» trifft Agronomie-Studenten, die dank guter Leistungen aufs Landwirtschafts-College gehen. «Die meisten meiner Freunde sind nicht hier. Ich kam nach dem Militärjahr hierher. Aber meine Freunde schafften es nicht ins College, sie mussten ins Militär», sagt der Student Sesen Dawit.
Nur etwa 30 Prozent schaffen es in ein staatliches College, viele landen im Militär. Doch selbst die Agronomie-Studenten denken über Flucht nach. Denn, was kommt nach dem Studium? «Das ist in den Händen der Regierung. Die werden uns dorthin versetzen, wohin sie möchten», sagt Dawit. Wer sich nicht daran hält, bekommt Probleme. Und das bedeutet möglicherweise Gefängnis, dann Abkommandierung an einen anderen Ort. Davor haben die Studenten Angst.
Diaspora finanziert das System
«Viele unserer Brüder und Freunde verloren ihr Leben im Mittelmeer. Es ist sehr gefährlich», sagt der Student Awet Ghebremedhin. Eine Flucht lohne sich darum nicht: «Sie gaben tausende von Franken für die Flucht aus. Aber sie schicken nur wenig zurück und können die Ausgaben der Familien nicht zurückzahlen.» Man verliere mehr, als man gewinne. Trotzdem sei keiner ihrer Freunde bisher zurückgekommen.
Heute lebt das Land vom Geld der Diaspora. Viele Eritreer verliessen ihre Heimat in den 1990er-Jahren während des Unabhängigkeitskriegs. Diese ältere Generation hat heute das Geld, um mit den Kindern in die Ferien zu reisen. Am Roten Meer trifft die «Rundschau» Eritreer aus Norwegen, aus den USA, aus der Schweiz – aber entgegen verschiedener Medienberichten – keinen einzigen Asylbewerber der aktuellen Migrantengeneration.
Viele der Diaspora-Eritreer sind heute Doppelbürger und kennen beide Seiten. Agheazi Tesfamichael aus Genf sagt, dass er niemals sagen würde, die Schweiz solle keine Eritreer mehr aufnehmen.
Trotzdem frage er sich: «Warum akzeptieren wir eher die Eritreer und nicht Menschen aus anderen afrikanischen Staaten?» Und denkt dabei an das Bürgerkriegsland Kongo oder Somalia oder den Südsudan. Ihn stört, dass man bei Eritrea immer wieder von den Menschenrechten spricht. Aber nicht darüber, ob jemand genug zu essen hat, Zugang zu Wasser, Hilfsleistungen, ein Dach über dem Kopf. Und stellt die Frage: «Ist das eigentlich nicht schon ein Luxus in Afrika? In dieser Welt, in der wir leben?»