Alexander Vershbow ist ein Mann ohne Illusionen. Dafür hat der 63-jährige Karrierediplomat schon zu viel erlebt. Er war Washingtons Botschafter in Südkorea, in Russland, bei der Nato. Ausserdem war Vershbow Vizechef des Pentagons, er beriet den US-Präsidenten, er sass im nationalen Sicherheitsrat. Seit vier Jahren nun ist er die Nummer zwei am Nato-Sitz in Brüssel.
Jemand wie er glaubt nicht, dass die Nato einen allfälligen russischen Angriff auf die baltischen Staaten mit 4000 Mann niederschlagen könnte – mit jenen vier Bataillonen also, welche die Verteidigungsminister der Allianz nun fest in Osteuropa stationieren wollen.
Immerhin könnten die neuen, äusserst kurzfristig mobilisierbaren Nato-Kontingente einen raschen Sieg Russlands verhindern: «Sie treiben den Preis eines Angriffs hoch», sagt Vershbow. Damit werde sich in Moskau niemand getrauen, die Nato ernsthaft zu testen.
Direkter Angriff sehr unwahrscheinlich
Vershbow denkt freilich nicht, dass Russland eine direkte Konfrontation mit dem Westen suche. «Wir sind zusammengenommen militärisch deutlich stärker als Russland», betont er. Denkbar sei hingegen, dass das Regime erneut sein Rezept der Krim-Annexion anwende und mit Unterwanderung, Propaganda sowie inoffiziellen Soldaten, die dann als «grüne Männchen» bezeichnet werden, gegen ein anderes Land vorgehen könnte.
Der Nato-Vize versteht daher die Besorgnis und Angst in Osteuropa, vor allem in den am stärksten exponierten drei baltischen Staaten. Vershbow räumt auch ein, dass die Nato bisher nicht allzu viel getan habe, um deren Sicherheitsgefühl zu stärken. Die aktuellen Luftpolizei-Einsätze seien keine ernsthafte Luftverteidigung, sondern eher symbolisch wichtig.
Kein Wunder, dass die Balten jetzt am Nato-Verteidigungsministertreffen auch ein umfassendes Fliegerabwehrsystem fordern. Vershbow lässt offen, ob sie es bekommen. Was militärisch erforderlich sei, würden die Nato-Generäle entscheiden, betont er.
Nach allem, was passiert ist, ist eine Rückkehr zur Normalität derzeit nicht möglich.
Dezidiert äussert er sich dafür zum politischen Verhältnis zu Russland: «Nach allem, was passiert ist, ist eine Rückkehr zur Normalität nicht möglich», sagt er. Auf jeden Fall nicht, so lange Russland die Lage in der Ostukraine destabilisiere und die Krim besetze.
Nach einer kurzen Phase der Kooperation mit Moskau liege der Akzent jetzt wieder bei der militärischen Abschreckung. Zwar habe man nie ganz auf Abschreckung verzichtet. Aber es sei halt einfacher gewesen, als Russland ein Partner der Nato sein wollte. «Zurzeit will es das nicht», stellt der Amerikaner fest.
Moskau träumt von Jalta
Vershbow bestreitet auch, dass es Russlands Präsident Wladimir Putin einzig darum gehe, ernst genommen zu werden. Der Westen, auch die USA, hätten das Land stets ernst genommen, auch unter Gorbatschow, auch unter Jelzin. Russland jedoch wolle mehr als bloss Respekt.
Die Führung wolle die Uhr zurückdrehen, «sie will zurück zur Welt von Jalta». Zu einer Welt, in der jede Supermacht ihre Einflusssphäre hatte und kleineren Staaten ihren Willen aufzwang. Doch das sei schlicht unmöglich. Kein Staat akzeptiere das heute noch.
Mit Trump könnte sich einiges ändern
Die Nummer zwei der Nato ruft die europäischen Partner auch dazu auf, endlich mehr zum Bündnis beizutragen. Rund die Hälfte der Mitglieder sei dazu bereit. Damit sagt er zugleich, wenn auch diplomatisch, dass die andere Hälfte weiterhin zu wenig tue – und einige sogar viel zu wenig.
Fakt ist: Momentan schultern die USA siebzig Prozent der Lasten der Allianz. «Das ist auf Dauer unhaltbar», so Vershbow. Ganz sicher wäre damit Schluss, wenn einer, dessen Namen er nicht nennt, US-Präsident würde.
Trotz allem wirbt Vershbow dafür, den Dialog mit Moskau neu zu beleben. Das jüngste Treffen des Nato-Russland-Rates nach langer Pause sei zwar schwierig, aber zivilisiert verlaufen. «Es braucht einen minimalen Austausch, es braucht ein Mindestmass an gegenseitiger Transparenz», so der altgediente Diplomat. Und sei es auch nur, um zu verhindern, dass der aktuell heftige Konflikt in einen regelrechten Krieg ausartet. In einen Krieg, den niemand wirklich will.