- In Neapel gibt es laut Schätzung der Polizei über 100 Gangs und Camorra-Clans.
- Neuerdings sind immer mehr Kinder und Jugendliche Opfer – aber auch Täter.
- Der Staat versucht, mit Prävention an den Schulen Gegensteuer zu geben.
- Aber der Kampf gegen das organisierte Verbrechen ist nur schwer zu gewinnen.
Chiaia ist ein Quartier mitten in Neapel, direkt am Meer. Auf dem schmalen Streifen Strand bauen Kinder eine Sandburg. Jemand verkauft kühle Getränke. Ältere Damen in altmodischen Badekostümen dösen auf Plastikstühlen.
Eine glückliche Stadt, zumindest aus dieser Perspektive. Neben dem Strand von Chiaia liegt die Uferpromenade mit ihren schicken Läden, dahinter wird es schnell sehr steil. Je höher man steigt, desto ärmlicher und schäbiger sind die Häuser.
Ein Quartier mit Licht und Schatten. Die zeigen sich auch in der Quartierschule mit dem Namen Tito Livio. Schuldirektorin Elena Fucci sagt: «Wir haben Schüler aus sehr gutem Haus, aber auch solche, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen.» Sie schaut beim Erzählen durchs Fenster auf die Gasse.
Kinder der Drogenbosse übernehmen «Geschäft»
Die Probleme muss man hier nicht lange suchen. Sogenannte Baby-Gangs und die organisierte Kriminalität operieren zwar im Verborgenen, doch unter den Folgen leiden alle. Vor ein paar Jahren ist es der Polizei gelungen, zahlreiche Bosse der Camorra, der lokalen Mafia, hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Seither sind deren Kinder herangewachsen. Als erstes versuchen sie, das Revier ihrer Eltern zu übernehmen, vor allem den Drogenhandel. Auch 14-, 15-, 16-Jährige tun das bereits mit Waffen, daher die Bezeichnung Baby-Gang. Jeder an der Schule Tito Livio weiss, worum es geht. Zum Beispiel die 14-jährige Anna Lisa. «Ich habe Angst, weil ich schlimme Dinge höre und lese», erzählt sie. Unten auf der Strasse werde mit Drogen gedealt.
Drogen, Schutzgeld und die berüchtigte «Omertà»
Klassenkamerad Alessio bestätigt das und ist dankbar dafür, dass seine Lehrerin Themen wie die Camorra offen anspricht. «Vor kurzem hatten wir Besuch», sagt Alessio. Ein Unternehmer kam in ihre Klasse und erzählte vom «Pizzo», vom Schutzgeld. Er habe sich geweigert, der Camorra Schutzgeld zu bezahlen. Schliesslich musste er sein Geschäft schliessen. Die Camorra hatte ihn und seine Familie bedroht.
Das Schweigen darüber, die «Omertà», zu brechen, sei Teil der Prävention, sagt Lehrerin Donata Catalano. Das habe die Lage zumindest ein wenig verbessert: «Ich möchte ein gutes Wort einlegen für unsere Stadt. Erzählen Sie im Radio nicht nur Schlechtes über Neapel», bittet die erfahrene Lehrerin aus Chiaia.
In den engen Gassen von Neapels Altstadt flattert Wäsche vor Fenstern und Balkonen im Wind. An Hauswänden hängen, wie in Italien üblich, Todesanzeigen, die laufend mit neuen überklebt werden. Kinder spritzen mit dem Wasser eines kühlen Brunnens. Tatsächlich hat sich hier einiges verbessert. Es liegt weniger Abfall auf den Strassen und es kommen wieder mehr Touristen.
Tourismus als Schlüssel gegen Jugendarbeitslosigkeit
Sabina Pagnano ist Capitano, also «Hauptmann» der Stadtpolizei, und leitet dort den Kinderschutz. Sie geht sogar so weit, von einem wunderbaren Moment für Neapel zu sprechen: «Der Tourismus entwickelt sich prächtig, das schafft Arbeitsplätze, auch für Junge.» Er weiss, dass das allein nicht reicht. Die Macht der Camorra bleibt enorm. Um sie zu beschreiben, erzählt Pagnano von einem 8-jährigen Mädchen, das dabei erwischt wurde, wie es Kokain in Säckchen abpackte.
Kinder und Jugendliche imitieren das kriminelle Verhalten der Eltern.
Es waren kleine Portionen für den Verkauf. Diese 8-Jährige sei von ihren Eltern angestiftet worden: «Kinder und Jugendliche imitieren das kriminelle Verhalten der Eltern. Die Polizei hat dieses Mädchen aus ihrer Familie geholt und es weit weg von Neapel fremdplatziert.» Damit es nicht soweit kommt, sind Pagnano und ihre Kollegen täglich in den Schulen unterwegs, um über die Camorra zu sprechen, zu informieren, aufzuklären. Ein schwieriges Unterfangen.
Die Hoffnung, reich oder überhaupt jemand zu werden
Für viele Junge bedeutet die Camorra Macht. Viele Junge hoffen, durch sie reich und überhaupt jemand zu werden. «Diesen Jugendlichen zu erklären, dass das falsch ist und dass sie mit einem kleinen Lohn zum Beispiel als Pizzabäcker oder Stadtpolizist glücklicher sind, das ist unsere tagtägliche Aufgabe», sagt Pagnano.