Steter Tropfen höhlt den Stein. Und in der Türkei «tropft» es derzeit gewaltig, und unablässig: Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP-Regierung fluten den öffentlichen Diskurs mit aufgeladenen Schlagworten.
«Neue Türkei», «fortgeschrittene Demokratie» und die «Nation»
«Hakimiyet Milletindir» steht seit dem 22. Juli in mannshohen Lettern am Atatürk Kulturzentrum beim Istanbuler Taksim-Platz: «Die Souveränität geht vom Volk aus».
Eigentlich alles andere als neu – der Slogan war 1920 Grundsatz des ersten türkischen Parlaments – wird er der Bevölkerung mit neuer Bedeutung in ständiger Wiederholung eingetrichtert. Gleiches geschieht mit Begriffen wie der «Neuen Türkei», der «fortgeschrittenen Demokratie», der «Einheit» oder der «Nation». Auch die «Terroristen» gehören dazu.
«Auf den Strassen und in den U-Bahnen hängen seit dem Putschversuch überall rot-weisse Aushänge und Plakate», sagt der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel.
Was vor dem Putschversuch allenfalls in politischen Reden erwähnt wurde, dominiere seither massiv den öffentlichen Diskurs: «Begriffe, die es schon gab, wurden mit einem Bedeutungswandel für die AKP-Politik nutzbar gemacht.»
Das «Volk» sind jetzt die Regimetreuen
Aus der kemalistischen – ebenfalls schon auf eine bestimmte Schicht begrenzten – «Volkssouveränität» ist die Souveränität der Erdogan-Treuen geworden. Regime-Gegner sind in Erdogans Rhetorik «Terroristen». Seine vor einigen Jahren als volkswirtschaftliche Zielsetzung definierte «neue Türkei» meint laut Brakel heute in erster Linie eine «fortgeschrittene Demokratie» der nationalen Einheit.
Eine «Einheit» freilich, zu deren Konzept Meinungsvielfalt nicht zu gehören scheint. Die allgegenwärtigen Propaganda-Aushänge sind in den Nationalfarben gehalten, ein Partei-Logo der AKP sucht man darauf ebenso vergebens wie auf der gestrigen Grossdemonstration.
Was die Botschaft sein soll, ist laut Braker noch nicht klar. Geht es tatsächlich «nur» um das Zusammenstehen als Nation oder stellt Erdogan die Bevölkerung vor die Wahl: «Türke» oder «Terrorist»?